Renate Gradistanac: Ich lese gerade „Fast ganz die Deine“ von Marcelle Sauvageot
Lesen ist Denken. So lange ich denken kann, lese ich. Meine preußische Erziehung gebot mir einst, jedes Buch zu Ende zu lesen. Das tue ich heute nicht mehr, die Lebenszeit ist begrenzt. Aufgeschlossen bin ich und belastbar beim Betreten unbekannten Terrains, auf der Suche nach Seelenverwandtschaft, Heimat, innerem Dialog. Darauf gründet der wichtigste Teil meiner Persönlichkeit, daraus ziehe ich Stabilität. Ich lebe und reise mit Büchern. Am Morgen stehe ich eine Stunde eher auf und lese in den Tag hinein. Lesen ist existenziell.
Uwe Johnsons „Skizze eines Verunglückten“ und Simone de Beauvoirs „Eine gebrochene Frau“ habe ich vor 19 Jahren zeitgleich gelesen; auf beide Bücher greife ich zurück, wenn ich jetzt Marcelle Sauvageots „Fast ganz die Deine“ vor mir habe. Die drei Bücher zeigen, wie Menschen brechen können und wie unterschiedlich die Geschlechter darauf reagieren: aggressiv der Mann, autoaggressiv die Frau.
Menschliche Beziehungen gründen auf Vertrauen, und ich weiß, dass ich immer auf mich zurückgeworfen sein werde. Dies bedeutet Einsamkeit, die ich aushalten kann und will. Eindringlich und unvergleichlich radikal zärtlich berichtet Marcelle Sauvageot davon: „Man soll sein Glück nicht in Abwesenheit erleben“, ist ein Kernsatz ihres Buches und die Mond-Legende eines der schönsten Bilder, von denen ich weiß: „Bei der Geburt bindet der Mond den Fuß eines künftigen Mannes mit einem roten Band an den Fuß einer künftigen Frau. Im Leben ist das Band unsichtbar, doch die beiden Menschen suchen einander, und wenn sie sich finden, erreichen sie das Glück auf Erden.“
Sei wahrhaftig, sei präsent, und wenn du ihn oder sie nicht kriegen kannst, willige nicht ein in eine laue Freundschaft, dreh dich um und geh! – Marcelle Sauvageot schrieb dies bereits im Jahr 1930. Kunst ist groß, wenn sie schonungslos ist und elementar und in uns zum Klingen bringt, was uns elementar ist.
Marcelle Sauvageot: Fast ganz die Deine, Nagel & Kimche, München 2005, 107 Seiten.
Foto: Deutscher Bundestag
Erschienen am 30. Mai 2005
Weitere Informationen:
RENATE GRADISTANAC, Jahrgang 1950, ist seit 1998 für die SPD im Bundestag und seit 2005 stellvertretende tourismuspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion.