Rainer Eppelmann hat den Bundestag verlassen. Eine Zeit ist zu Ende, von der einiges Bestand haben wird. An Plänen für das neue Leben mangelt es nicht.
Er schlägt vor, sich in Berlin-Mitte zu treffen. In der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in der Otto-Braun-Straße. Die ist schon lange ein Teil seines Lebens als Politiker. Nun wird dieser Teil größer werden. Viel größer, wenn es nach Rainer Eppelmann geht. Von jetzt an wird er mehr als bisher über seine Tage, seine Arbeit und seine Leidenschaften bestimmen können. Sein Leben als Bundestagsabgeordneter war einem vorgegebenen Rhythmus unterworfen. Gestaltungsspielräume gab es genug – doch lag ihnen ein bestimmtes Raster zu Grunde. Nun, mit 62 Jahren, macht Rainer Eppelmann, was er will. Und er will vieles. Die Flure der Stiftung sind mit Plakaten verschönt und ihre Wände leuchten hell. Das macht das Haus, in dem einst die Statistiker der DDR saßen, erträglich. Denn schön ist es nicht. Rainer Eppelmann läuft schnell, grüßt in dieses und jenes Zimmer und redet dabei fast ohne Unterlass. Er hat viel zu sagen und er berlinert mehr, als man vorher glauben mochte. Das passt aber zu ihm.
Den Beschluss des Bundestages zur Errichtung der Stiftung fasste er 1998 als Abgeordneter mit. Und da er in den Jahren zuvor Vorsitzender zweier großer Enquete-Kommissionen war, die mit der Aufarbeitung der Geschichte und mit den Folgen der SED-Diktatur und mit der überwindung dieser Folgen im Prozess der Deutschen Einheit befasst waren, war es nur logisch, dass Rainer Eppelmann Vorsitzender der Stiftung wurde.
Das werde er nun, sagt er, mit viel mehr Zeit und Möglichkeiten und Kraft sein können. Dabei lehnt er sich zurück, breitet die Arme ein wenig aus, wie um zu zeigen, dass er sich hier jetzt verankert, und dann lächelt er. Lebensabschnitte, die einen Anfang und dann auch ein richtiges Ende haben, sind dem Bürgerrechtler, dem einstigen Pfarrer der Samariter-Gemeinde in Berlin (Ost), dem gelernten Maurer und ewigen Widerständler nicht fremd. „Ich glaube“, sagt er, „15 Jahre sind für mich die passenden Zeitabschnitte. 15 Jahre war ich Pfarrer und 15 Jahre habe ich im Bundestag gesessen. Mal sehen, wie die nächsten 15 Jahre werden.“
Mal sehen. Das klingt, als könne Rainer Eppelmann die Dinge jetzt gelassen auf sich zukommen lassen. Vielleicht. Aber kann er sie denn auch hinter sich lassen?
Es sei nicht zu spät, aber viel später hätte es auch nicht werden dürfen, sagt er, um neue Schwerpunkte im Leben zu setzen. Der Prozess des Nachdenkens darüber habe bereits 2002 begonnen. Da habe er im Vorfeld der Wahlen einen Kampf gegen einen Kandidaten führen müssen, dessen Methoden fragwürdig und unfair waren. Und das sei ein Zeichen gewesen, dass die Zeiten sich sehr ändern, nicht nur zum Besseren, und dass er nicht jede dieser Veränderungen mitmachen möchte. „Jetzt mache ich aus der Kür die Pflicht, hier in der Stiftung, und es wird gut werden.“
Das „mal sehen“ bezieht sich für Rainer Eppelmann auch auf all das, was er nun wieder oder sogar neu lernen muss. Bundestagsabgeordneter zu sein, mache einen in gewissen Dingen des Alltags auch ein wenig unmündig, sagt er. „Ein paar Privilegien werde ich vermissen. Ich muss mir zu Hause ein richtiges Büro einrichten und ich muss lernen, wie das mit dem Computer funktioniert. Computert haben bisher andere für mich. Ich habe mir nun einen gekauft. Und ich musste feststellen, dass ich zum Beispiel nicht weiß, wie man übers Internet ein Zugticket bucht.“
Dafür kann er gut kochen, aber das erfährt man erst später, bei der Frage, welche Bücher Rainer Eppelmann nun zuerst lesen wird, wo er doch die Zeit dafür hat. „Vielleicht fange ich mit den Kochbüchern an“, sagt er und lacht. „Die stehen zwar ganz oben im Regal, aber? Und mehr Zeit für die fünf erwachsenen Kinder und die Enkelkinder werde ich mir nehmen. Und im Bundestag werde ich auch in jeder Sitzungswoche sein, denn ich bin seit einigen Jahren in einem fraktionsübergreifenden Gebetsfrühstückskreis, an dem ich weiter teilnehmen werde.“
Da fängt man an, die Stunden zu addieren und denkt, dass sich der Rainer Eppelmann vielleicht irrt, wenn er all dies tun will. Die Tage werden ja nicht länger.
In den Zeitungen war vor den Wahlen zu lesen, dass mit Eppelmann eine ganze Gruppe von Abgeordneten fast verschwinden werde aus dem deutschen Parlament. Die der DDR-Bürgerrechtler nämlich. Und damit sei dann auch eine ära zu Ende, was zu bedauern wäre. „Ach“, sagt Rainer Eppelmann, „da ist doch eine Generation Abgeordneter nachgewachsen, die eine gute Arbeit machen werden. Man muss loslassen können. Und gehen, wenn es für einen selbst der richtige Zeitpunkt ist.“
Was bleibt, ist natürlich die Mutter aller Fragen: Bleibt was? Und: Hat es sich gelohnt? Die 32 Bände, die aus der Arbeit der beiden Enquete-Kommissionen des Bundestages hervorgingen, sind wichtig. Und sie sind einmalig in ihrer Vollständigkeit der Beschreibung eines Alltags der Unterdrückung und des Widerstandes, des Sich-Einrichtens und Damit-Lebens – oder des Verweigerns und der Flucht in einem untergegangenen Staatswesen. Wer wissen und erkennen will, dem wird es möglich gemacht, denn Wissen und Erkenntnis sind aufgeschrieben. „Und daraus sind ja auch Dinge entstanden, die weitergehen“, sagt Eppelmann. „Nicht nur die Stiftung. Forschungsarbeit wird geleistet, es wird geschrieben und nachgedacht. Auf diese Arbeit in den Enquete-Kommissionen bin ich stolz und ich traue ihr Nachhaltigkeit zu.“ Rainer Eppelmann, der gegangen ist, als er gehen wollte, fängt ein neues Leben an. Eins, das anknüpft an das Leben davor. Er muss sich dafür nicht neu erfinden. Aber ein Abenteuer ist es doch.
Text: Kathrin Gerlof,
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 01. Dezember 2005
Informationen zur Stiftung Aufarbeitung: www.stiftung-aufarbeitung.de