Rainer Barzel, der am 26. August gestorbene achte Präsident des Deutschen Bundestages, hatte dieses Amt nur eineinhalb Jahre inne. Doch in dieser kurzen Zeit, von März 1983 bis Oktober 1984, hat er den Debattenstil durch Humor, Schlagfertigkeit und überparteiliche Fairness maßgebend geprägt. Sein Lebensweg war voller Wagnisse und begleitet von politischen Niederlagen und persönlichen Schicksalsschlägen.
Seinen 2001 erschienenen Erinnerungen gab der in Ostpreußen geborene und in Berlin aufgewachsene Jurist den Titel „Ein gewagtes Leben“. Sein Lebensweg war wirklich voller Wagnisse und begleitet von politischen Niederlagen und persönlichen Schicksalsschlägen.
Seine schwerste Niederlage war das Misstrauensvotum gegen den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt am 27. April 1972: Als Vorsitzender der CDU und der CDU/CSUBundestagsfraktion stand der ehrgeizige Politiker nur wenige Meter vor dem höchsten Ziel, dem Amt des Bundeskanzlers. Rein rechnerisch hatte er die dafür notwendige Mehrheit beisammen. Doch als das Ergebnis der Abstimmung bekannt gegeben wurde, fehlten Barzel zwei Stimmen, offenbar von zwei CDU/CSU-Parlamentariern, die vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR bestochen worden waren, wie sich später bewahrheitete.
Bis dahin ging es für Rainer Barzel stetig bergauf. Bei der Wahl 1957 zog er in den Bundestag ein, verschaffte sich schnell einen Ruf als brillanter Redner und politisches Talent. Er stieg rasch in den Fraktionsvorstand auf und wurde 1962 Minister für gesamtdeutsche Fragen im Kabinett Adenauer – im Alter von 38 Jahren. Als Fraktionschef der CDU/CSU organisierte und koordinierte er ab 1966 im Parlament mit seinem SPD-Pendant Helmut Schmidt die erste Große Koalition, und 1971 wurde er schließlich CDU-Vorsitzender, in einer Kampfabstimmung gegen den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Helmut Kohl.
Doch mit dem gescheiterten Misstrauensvotum verließ Rainer Barzel die politische Fortune. Nur mit großer Mühe konnte der Befürworter der Ostverträge im Mai 1972 seine Fraktion zu einer Enthaltung bei der Abstimmung bewegen. Im November folgte die Niederlage der CDU/CSU bei der vorgezogenen Bundestagswahl, die die Sozialdemokraten erstmals zur stärksten Fraktion wachsen ließ.
Und im Mai 1973 widersprach in der Fraktion eine Mehrheit seinem Ja zum Beitritt der Bundesrepublik zu den Vereinten Nationen. Er legte den Fraktionsvorsitz nieder und verzichtete wenig später auch auf eine neue Kandidatur zum CDU-Vorsitz.
Helmut Kohl, der neue Spitzenmann der Union, schaffte 1982, was Barzel versagt geblieben war. Er stürzte den Kanzler Helmut Schmidt (SPD) mit Hilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums und holte seinen früheren Rivalen als Minister für innerdeutsche Beziehungen ins Kabinett – das Amt, das er bereits unter Adenauer bekleidet hatte.
Nach der Bundestagswahl 1983 wurde Barzel als Vertreter der größten Fraktion zum Bundestagspräsidenten gewählt. Eine besondere Herausforderung für ihn waren die erstmals im Parlament vertretenen Grünen und deren nicht immer einfache Gewöhnung an die parlamentarischen Regeln. Als zum Beispiel die Grünen während der Nachrüstungsdiskussion bei einer Sitzung provokativ stehen blieben, legte Barzel dies schlagfertig als Reverenz für den nachfolgenden Redner, Bundeskanzler Kohl, aus. Und schon nahmen die Parlamentsneulinge wieder Platz.
Aber auch dieser Abschnitt in Barzels politischer Karriere endete unglücklich. Er wurde aufgrund seiner Arbeit in einer Frankfurter Anwaltskanzlei mit dem Flick-Parteispendenskandal in Verbindung gebracht. Er wehrte sich gegen die Vorwürfe und legte sein Amt als Bundestagspräsident nieder. 1987 gab er auch sein Parlamentsmandat auf, das er 30 Jahre lang innehatte.
Privat hat Rainer Barzel schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Seine einzige Tochter nahm sich 1977 das Leben. Drei Jahre später starb seine erste Frau an Krebs. Seine zweite Frau kam 1995 bei einem Autounfall ums Leben. 1997 heiratete Barzel die Schauspielerin und Regisseurin Ute Cremer und zog in die Nähe von München. Seine schwere Krankheit fesselte ihn zuletzt an den Rollstuhl. Er wurde 82 Jahre alt.
Am 22. September gedachte der Deutsche Bundestag mit einem vom Bundespräsidenten angeordneten Staatsakt seines ehemaligen Präsidenten im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes.
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