Das Wissen der Menschheit vermehrt sich immer schneller. Auch ihre Fähigkeiten nehmen rasant zu. Seit Jahrhunderten lässt sie Mikroorganismen für sich arbeiten, um etwa Bier, Wein oder Käse zu erhalten. Werden sie bald Arme, Ohren und Augen entstehen lassen, weil die Forscher das Erbgut zu „lesen“ gelernt haben und es gezielt verändern können? Werden bislang unheilbare Krankheiten schon bald mit Hilfe der Gentechnik behandelt, ganz gleich, ob es um organische oder seelische Störungen geht?
Diese perspektivischen Fragen zu stellen, bedeutet zugleich, eine doppelte Dimension in den Blick zu nehmen: Schier grenzenlose Hoffnungen bei Millionen Menschen eröffnen weltweit Geschäftsaussichten im Umfang von Milliarden Euro. Grenzenlose Eingriffe in das Erbgut eröffnen jedoch auch Schrecken über apokalyptische Manipulationsmöglichkeiten des Lebens selbst. Steht am Ende der künstliche Mensch? Dass dem Klonschaf „Dolly“ inzwischen das erste geklonte Baby gefolgt sein soll, zeigt trotz aller Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Behauptung, dass Politik und Gesellschaft nicht irgendwann, sondern jetzt gefordert sind.
Der weltweite Bio-Tech-Boom verläuft regional mit höchst unterschiedlicher Dynamik. Die Deutsche Industrievereinigung Biotechnologie (1) sieht das Gründungsfieber früherer Jahre verflogen, verweist auf schrumpfende Umsätze, sinkende Forschungsausgaben, ins Ausland abwandernde Fachleute. Der dahinter stehende Vorwurf: Zu starke Bedenken, gesetzliche Einschränkungen gar, könnten Deutschland von dem Wachstumsmarkt der Zukunft abkoppeln, die Wertschöpfung ins Ausland verlagern, obwohl die Vorteile der neu entstehenden Produkte als Macht des Faktischen theoretische Vorbehalte unaufhaltsam zurückdrängen würden. Auf dem Weg zum neuen Segen für die Menschheit fallen jedoch auch Misserfolge ins Auge, die durch zusätzliche Erkrankungen behandelter Menschen die potenziell extrem schwierige Beherrschbarkeit der Technik unterstreichen. Dieses Dilemma ruft einen Begriff und eine überwölbende Frage auf den Plan: Was ist ethisch (2) verantwortbar?
Damit sind die Probleme allgemeingültiger Grenzziehungen angesprochen, die Frage, wie der Staat seiner Pflicht nachkommt, die Schwachen zu schützen, das fundamentale Recht jedes Einzelnen auf Leben und Würde zu garantieren. Die Problematik wird deutlich an der Befugnis der Polizei zum „finalen Rettungsschuss“: Danach dürfen einzelne Menschen getötet werden, wenn diese das Leben anderer als Geiselnehmer bedrohen und die Rettung dieser anderen Menschen anders nicht möglich ist. Was bedeutet das für die embryonale Grundlagenforschung? Darf entstehendem Leben das Recht auf Verwirklichung dieses Lebens genommen werden, um Voraussetzungen zu schaffen für die Hoffnung, vielen anderen sterbenskranken Menschen das Überleben ermöglichen zu können?
Darf der Staat auf der anderen Seite den Menschen das Recht absprechen, über das Ende ihres Lebens selbst zu bestimmen, etwa wenn es für sie auf Grund schwerer Erkrankungen als das Gegenteil von lebenswert erscheint? Inwieweit darf der Staat Dritten erlauben, den Sterbewilligen ihren Wunsch zu erfüllen? Soll die Gemeinschaft den Einzelnen tatsächlich bei dieser finalen Entscheidung allein lassen, die möglicherweise anders ausfiele, wenn ihm bislang nicht bekannte Optionen, Chancen, Alternativen aufgezeigt würden? Selbst wenn alle diese Fragen zu Gunsten eines Selbstbestimmungsrechtes entschieden würden – was ist dann mit den Menschen, die in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt sind oder gar nicht mehr in der Lage sind, selbst über ihren Willen zu reflektieren? Geisteskrankheiten machen diesen Prozess schleichend und die Erkennbarkeit schwierig. Und grundsätzliche Probleme ergeben sich auch aus dem unvermittelt eintretenden Zustand von Komapatienten. Welche Behandlung darf der Arzt unter mehreren möglichen, aber wenig Erfolg versprechenden und risikobehafteten wählen? Darf die Grundlagenforschung die Befindlichkeit des Komapatienten zu Untersuchungen und forschenden Eingriffen nutzen, um langfristig ihm oder anderen ähnlich Betroffenen möglicherweise helfen zu können? Wer tritt an die Stelle des nicht einwilligungsfähigen Menschen? Nach welchen Kriterien wird sein vermuteter Wille ermittelt? Fragen, die den Arzt genauso überfordern wie den nahen Angehörigen. Hilfestellungen der Gemeinschaft und des Gesetzgebers sind hier nicht nur hilfreich, sondern nötig.
Die Medizin kann nicht nur immer mehr, ihre Möglichkeiten bedeuten gleichzeitig auch, dass die Behandlungen immer teurer werden. Wo noch vor Jahrzehnten die Chiffren „jede ärztliche Kunst war vergebens“ oder „jede ärztliche Hilfe kam zu spät“ die letzte Antwort der Gemeinschaft darstellten, sind heute andere Reaktionen möglich. Das bedeutet jedoch nicht selten den Einsatz gewaltiger finanzieller Mittel. Es versteht sich von selbst, dass die humane Gesellschaft verpflichtet ist, Menschenleben unter Einsatz aller Mittel zu retten. Es ist aber genauso klar, dass die Aufwendung täglich Hunderttausender von Euro für eine unbegrenzte Zahl von Patienten die Möglichkeiten der Gemeinschaft überfordern würde.
Die teilweise erregten und sehr emotionalen Debatten im zurückliegenden Sommer gaben eine Vorahnung, welche schwierige Klärung auf diesem Feld noch bevorsteht: Kann die Gemeinschaft der Krankenversicherten einzelnen Mitgliedern die Finanzierung eines neuen Hüftgelenkes versagen, wenn diese ein bestimmtes Alter überschritten haben? Hier schimmerte ein verheerender Generationenkonflikt durch.
Jede Antwort auf diese Fülle prekärer Fragen muss auch der Bundestag beantworten. Aber jede Antwort kann nicht isoliert gesehen werden in einer immer enger zusammenwachsenden Europäischen Gemeinschaft und angesichts eines deutlichen Armutsgefälles auf der Welt. Wenn Deutschland den Organhandel verbietet – ist das genug angesichts der Not vieler Menschen in der Dritten Welt, die auch wohlhabenden Deutschen eine Transplantation im Ausland ermöglichen? Ethik ist also nicht nur schwierig für die Medizin in Deutschland. Sie macht auch nicht an den Grenzen halt.