Vieles war vorstellbar geworden vor 15 Jahren, in jenem Herbst 1989. Am 8. November hatte Bundeskanzler Helmut Kohl die Voraussage gewagt, dass sogar „die Tage der Mauer in Berlin gezählt“ seien. Zwischen dieser Vorahnung und der Versicherung des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, die Mauer werde „auch in 50 und in 100 Jahren noch stehen“, lag nur ein Monat. Dass es an jenem Donnerstag, dem 9. November 1989, nur noch Stunden sein würden, ahnte niemand.
Im Bundestag herrschte Donnerstagsroutine. Der damalige CDU-Abgeordnete Heinz Seesing findet in seinem Terminkalender die Morgenandacht, das Frühstück im Katholischen Büro, einen Gesprächskreis zum „Schutz des Lebens“, die Sitzung zum Thema „Energie“, eine Unterredung der NRW-Landesgruppe mit Diözesanräten. Er erinnert sich, dreimal für mehr als eine Stunde an der laufenden Sitzung des Bundestages teilgenommen zu haben – und an fünf namentlichen Abstimmungen, etwa über Rentenreform, Beamten- und Abgeordnetenversorgung.
Der SPD-Abgeordnete Norbert Gansel weiß noch, dass am Nachmittag der engere Fraktionsvorstand zu einer Sondersitzung zusammengerufen wird. Es habe eine „dramatische Stimmung“ geherrscht. Der Auftrag von SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel: eine neue deutschlandpolitische Konzeption entwerfen, um auf die täglichen Veränderungen zu reagieren. Am Nachmittag diktiert Gansel einem Mitarbeiter Forderungen an die DDR in die Schreibmaschine. Punkt fünf: „DDR-Bürger sollen die Grenzübergänge unbürokratisch zum Einkaufsverkehr in die Bundesrepublik nutzen dürfen und die Grenze ihres barbarischen Charakters entkleiden“.
Kurz nach 19 Uhr überschlagen sich die Ereignisse. Ein etwas unklarer Beschluss der DDR-Führung lässt sich so interpretieren, dass die Grenze unter bestimmten Bedingungen durchlässiger wird. Die Menschen im Osten Berlins wollen es sogleich ausprobieren, ohne dass die Grenzer instruiert sind. Nach und nach öffnen sie, mehr auf eigene Faust als auf Befehl, die Schlagbäume. Deutschland kann es kaum fassen, was sich gerade abspielt.
Auch rund um den Plenarsaal schwirren die Gerüchte. Immer mehr Abgeordnete laufen zusammen. „Irgendetwas ist in der DDR geschehen“, lauteten die ersten Hinweise, die Seesing erreichen. In der noch laufenden 174. Sitzung geht es um die „Verbesserung und Vereinfachung der Vereinsbesteuerung“. Um 20.22 Uhr verliest Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger die Agenturmeldung über die Ereignisse in Berlin und unterbricht erst einmal die Sitzung. Keiner kann sich auf Vereine und Steuern konzentrieren.
Der Bundestag findet sofort die angemessene Form der Reaktion. Die Tagesordnung wird beiseite geschoben, und als um 20.46 Uhr die Sitzung fortgesetzt wird, ergreift Kanzleramtsminister Rudolf Seiters (CDU/CSU) das Wort und gibt eine kurze Regierungserklärung ab. Er hat mit seinem Stab im Kanzleramt an diesem Abend „rauf und runter dekliniert, was zu machen ist“. Im Plenum nennt er nun „die vorläufige Freigabe von Besuchsreisen und Ausreisen aus der DDR“ einen „Schritt von überragender Bedeutung“ und bietet für den Fall grundlegender Reformen umfassende Hilfe an. Beifall bei allen Fraktionen. Der gilt auch allen anderen Rednern, die kurz und mit Freude und Rührung in der Stimme erläutern, was dieser Tag für Deutschland bedeutet. „Faktisch das Ende von Mauer und Stacheldraht“, stellt der FDP-Abgeordnete Otto Graf Lambsdorff fest. Und auch hier quittiert das Plenum per Beifall, dass in dieser Einschätzung Einigkeit herrscht.
Insofern liegt in der Luft, was nur noch einer kleinen Initialzündung bedarf: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ stimmen die Abgeordneten an. Die Nationalhymne, und Gansel empfindet diesen Augenblick im Nachhinein als „unnationalistisch“. Seesing schaut sich um: „Vielen gestandenen Frauen und Männern laufen dicke Tränen über die Wangen.“ Renger drückt aus, was alle denken: Es falle schwer, nun noch zur Tagesordnung zurückzukehren. Die Fortsetzung wird daher auf den Freitag vertagt. Die Abgeordneten gehen in Büros, Wohnungen, verfolgen im Fernsehen die Bilder der Nacht, versuchen Freunde und Bekannte in der DDR zu erreichen und freuen sich mit Millionen Bürgern.
Und viele erfüllt, wie den letzten Redner jener Sitzung, den inzwischen verstorbenen Wolfgang Mischnick, „eine große Hoffnung, eine Befriedigung darüber, dass wir gemeinsam den Glauben an die gemeinsame Nation nie verloren haben“.
Text: Gregor Mayntz
Foto: picture-alliance
Erschienen am 01. November 2004