Die Figuren des riesigen Leinwandgemäldes stehen teils kopfüber, ziehen sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. In seiner Expressivität drängt das Bild seinen Schöpfer fast aus dem Blickfeld. Ein wenig verloren wirkt Georg Baselitz, wie er im Mantel, die Hände auf das Treppengeländer gelegt, in der Südeingangshalle des Reichstagsgebäudes zu Füßen seines Gemäldes für den Fotografen posiert. In seinem Gesichtsausdruck meint der Betrachter verhaltenen Stolz auf sein Werk – eine Interpretation von Caspar David Friedrichs „Melancholie“ – zu spüren. Mühelos behauptet es sich gegen die Monumentalität der Architektur.
Das Porträt von Baselitz vor seinem für den Deutschen Bundestag geschaffenen Gemälde ist Teil eines umfassenden Fotoprojekts von Jens Liebchen: Von 1999 bis 2004 hat der Fotograf mit der Kamera all die berühmten Künstler begleitet, die auf Einladung des Bundestages Kunstwerke für das Reichstagsgebäude und die neuen Parlamentsbauten in Berlin geschaffen haben. Das ehrgeizige Kunstprogramm sollte bedeutenden Künstlern Gelegenheit geben, sich im Herzstück der deutschen Demokratie, dem Bundestag, mit dem schwierigen Verhältnis von Kunst und Politik auseinander zu setzen.
Baselitz, Gerhard Richter, Sigmar Polke, Jenny Holzer und Neo Rauch – das sind nur einige der Stars der internationalen Kunstszene, die Liebchen von 1999 bis 2004 vor ihren Installationen in den Gebäuden des Bundestages fotografiert hat. Im Reichstagsgebäude sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen entstanden, in den anderen Parlamentsbauten hat Liebchen in Farbe fotografiert. Vom 14. Juli bis zum 3. September 2006 sind über 50 dieser eindrucksvollen Künstlerporträts im Kunst-Raum des Deutschen Bundestages zu sehen.
Reportagefotografie
Eine Ausstellung, die man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte, meint der Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages, Andreas Kaernbach: „Liebchen ist es gelungen, diesen seltsamen Moment, in dem der Künstler seine Installation an ihrem Bestimmungsort, in der ihm fremden Sphäre der Politik, in Augenschein nimmt, einzufangen. Diese Fremdheit wird in den Porträts spürbar. Indem Liebchen die Begegnung des Künstlers mit seinem Werk in den Bundestagsbauten mit fotografischen Mitteln deutet, sind seine Fotografien eine ganz eigene Reflexion über Kunst und Politik – und damit selbst ein Kunstwerk.“
Liebchen selbst, der früher viel auf Vernissagen in Berlin fotografiert hat, bezeichnet seine Künstlerporträts als „klassische Reportagefotografie“. „Als ich Mitte der neunziger Jahre hörte, dass sich in- und ausländische Künstler an der Gestaltung der Parlamentsgebäude in Berlin beteiligen würden, habe ich sofort bei Andreas Kaernbach angefragt, ob ich mit der Kamera vor Ort dabei sein dürfe“, erzählt der gebürtige Bonner. „Zwei Jahre später rief er mich an: ‚Nächste Woche geht es los!’“ Ganz schön nervös sei er vor der Begegnung mit den berühmten und nicht immer ganz einfachen Künstlern gewesen, gesteht Liebchen. Doch glücklicherweise sei die Zusammenarbeit mit allen sehr unkompliziert verlaufen. Erstmals im Bundestag gezeigt wurde ein Teil der Fotografien im Jahr 2004. Seither präsentiert sie das Goethe-Institut immer wieder in seinen Außenstellen auf der ganzen Welt. Übrigens: Wer nach dem Besuch der Ausstellung Lust bekommen hat, sich die Kunstwerke an Ort und Stelle anzuschauen, sollte sich zu einer der Kunst- und Architekturführungen anmelden, die an jedem Wochenende stattfinden. Informationen erteilt der Besucherdienst des Bundestages.
Text: Nicole Alexander
Fotos: Deutscher Bundestag, Jens Liebchen
Erschienen am 6. Juli 2006
Künstler und ihre Werke in den Bauten des
Deutschen Bundestages – Fotografien von Jens Liebchen. Eine
Fotoausstellung im Kunst-Raum des Marie-Elisabeth-Lüders-
Hauses vom 14. 7. bis zum 3. 9. 2006. Der Besuch des Kunst-Raums
ist von der Spreepromenade aus ohne Formalitäten möglich,
der Eintritt ist kostenlos.
Öffnungszeiten: Dienstags bis Sonntags von 11 bis 17 Uhr.