Sind Eltern, Lehrer und auch die Politik hilflos ge-genüber einer solchen Entwicklung? Natürlich gebe es keine einfache Erklärung für die verschiedenen Formen von Gewalt in der Schule, sagt die CSU-Abgeordnete Marion Seib. Das bereits bei Kindern auftretende aggressive Verhalten verweise jedoch auf Erziehungsdefizite und Probleme der sozialen Integration junger Menschen, die offensichtlich im Zusammenhang mit grundlegenden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen stünden. Marion Seib: "Durch die Veränderung der Familienstrukturen hat sich vor allem die Erziehungsfähigkeit der Familien deutlich vermindert. Das hat zur Folge, dass Schüler mit den Problemen, die die potenziellen Auslöser für Gewalt sind - Zukunftsangst, Perspektivlosigkeit, mangelnde Aner-kennung, Leistungsdruck, das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden - nicht selten allein gelassen werden. Dagegen helfen keine ausgefeilten Sicherheitskonzepte." Die Forderung der Abgeordneten daher: "Es bedarf einer Verstärkung der pädagogischen und psychologischen Inhalte in der Lehrerausbildung. Außerdem brauchen Lehrer bei besonders schwierigen und gewaltbereiten Schülern Unterstützung durch pä-dagogische Fachkompetenz von außen."
Auch wenn nach Bekanntwerden mehrerer Fälle von massiver Gewalt an Schulen schnell vermeintliche Patentlösungen durch die Medien geisterten und gefordert wurde, Lehrerinnen und Lehrer sollten härter durchgreifen, Verweise schneller erteilt werden können und als ultima ratio die Videoüberwachung der Pausenhöfe eingeführt werden, habe die "Law and Order"-Methode an der Schule keine Zukunft; jedenfalls dann nicht, wenn man das Ziel verfolge, Kinder zu verantwortungsbewussten, selbstständig denkenden Personen zu erziehen. Dies ist die Überzeugung der bildungspolitischen Sprecherin der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Grietje Bettin, die weiter sagt: "Durch übereilte Symptombekämpfung kann Gewalt an Schulen nicht beseitigt werden. Es ist erstaunlich, wie selten in der Diskussion die Rede davon ist, dass immerhin noch jedem fünften Kind in unserer Gesellschaft das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung verwehrt wird. Kann man von Kindern erwarten, dass sie ohne Hilfe in der Lage sind, Konflikte kompetenter - sprich gewaltloser - zu lösen als ihre Eltern?" An den Schulen und an der Lehrerausbildung bestehe ein enormer Veränderungsbedarf. Schulen müssten in der Lage sein, sich auf ihre Schülerinnen und Schüler einzustellen. Sie müssten Kindern und Jugendlichen die Vorteile von gewaltfreiem Miteinander systematisch vermitteln. Dazu brauche es Lehrerinnen und Lehrer mit der passenden Ausbildung, dazu brauche es Zeit und den Willen, die Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen, sodass sie sich als Personen erführen, deren Meinung zählen. Es seien - so die Expertin weiter - nicht zufällig jene Schülerinnen und Schüler, die den Leistungsanforderungen der Schule nicht entsprächen, die am stärksten zur Gewalttätigkeit neigten. Grietje Bettin: "Deshalb wollen wir auch das Sitzenbleiben abschaffen. Ein Schuljahr zu wiederholen, entfaltet nachweislich kaum positive pädagogische Wirkung, kann aber die betroffenen Schüler enorm frustrieren und als Versager stigmatisieren. Individuelle Förderung, nicht Auslese, ist gefordert." Die Schulen müssten demokratischer werden. Das bedeute, Schülerinnen und Schüler in die Konfliktmediation einzubinden und sie gegen Gewalttätigkeit zu sensibilisieren, wie es in vielen Programmen erfolgreich praktiziert werde. So würden bereits zahlreiche Kinder und Jugendliche zu "Konfliktlotsen" ausgebildet, deren Aufgabe es sei, einen Ausgleich unter Ebenbürtigen herzustellen. Auf diese Weise werde von Gleichaltrigen vorgelebt, dass ein gewaltloses, aber dennoch sicheres Auftreten möglich sei.
"Das heutige System deutscher Schulen gehört zu einem vergangenen ökonomischen und gesellschaftlichen System. Hoch engagierte Lehrer lähmt ein unflexibles System von Verwaltung und Besoldung." - An diese Erkenntnis der OECD erinnert Christoph Hartmann, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, und daran, dass nach offiziellen Schätzungen 100.000 Schüler täglich die Schule schwänzen. Weitere Fakten machten deutlich, dass immer weniger Eltern ihrer im Grundgesetz verankerten Erziehungspflicht nachkämen oder bedingt durch berufliche Belastungen nicht mehr nachkommen könnten. Angesichts der allseits unbefriedigenden Situation müsse die Politik Rahmenbedingungen schaffen, die der Lebensrealität von Kindern, Eltern und der Gesellschaft entsprächen. Erforderlich sei ein umfassendes Konzept, das Familien-, Wirtschafts- und Bildungspolitik umfasse und die Kinder von Anfang an begleite. Frühkindliche Bildung und Erziehung seien erforderlich, Kindergärten müssten zu Bildungseinrichtungen werden und eine pädagogische Aufwertung erfahren. Um die so erzielte Qualitätssteigerung auch in der Schule zu sichern, müssten Schulen mehr Selbstständigkeit erhalten, unter anderem durch das Recht der autonomen Unterrichtsgestaltung. Christoph Hartmann: "Eltern und Schüler können so selbst darüber entscheiden, welche Schwerpunkte den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kinder entsprechen. Dabei geht es neben einer verbesserten Bildung aber vor allem um die gesellschaftliche Integration, das Aufzeigen von Handlungsoptionen und die Erziehung zu wertebasiertem Selbstvertrauen. Insbesondere bei der Gewaltprävention spielt die Sonderpädagogik eine entscheidende Rolle. Sie muss dabei helfen, Kindern und Jugendlichen eine Perspektive für ihre spätere berufliche Zukunft zu geben."
Im Hinblick auf das jüngste Geschehen in einer Hildesheimer Berufsschule stellt der Berliner CDU-Abgeordnete Roland Gewalt die Frage: "Ein bedauerlicher Einzelfall oder beispielhaft für eine Kultur des Wegschauens an unseren Schulen?" Tatsache ist für ihn, dass das Thema Gewalt-Prävention bei Jugendlichen und Heranwachsenden eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die man den Strafverfolgungsbehörden nicht allein überlassen kann. Wer Gewalt in der Schule verübe, werde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch außerhalb des Schulgebäudes kaum normgerecht verhalten - wie auch umgekehrt. Für den Unions-Abgeordneten ist es deshalb wichtig, "dass zwischen Lehrern und der Polizei eine intensivere Zusammenarbeit stattfindet. Die Pflege ideologischer Scheuklappen kennt an dieser Stelle nämlich nur ein Opfer: den Jugendlichen selbst. Wachsamkeit, verstärkter Informationsaustausch und eine Koordination des gemeinsamen Vorgehens erhöhen dagegen die Möglichkeiten, den Beginn krimineller Karrieren bei jungen Menschen noch rechtzeitig stoppen zu können." Auch in der Frage der Unterbringung noch strafunmündiger Serientäter in geschlossenen Einrichtungen verschlimmere eine falsch verstandene Rücksichtnahme die Gesamtsituation nur. "Diese Kids, bei denen in der Vergangenheit offensichtlich ein frühes Einschreiten versäumt wurde, brauchen in fast allen Fällen eine pädagogische Rund-um-die-Uhr-Betreuung, um sich überhaupt erst wieder an Regeln und deren Befolgung zu gewöhnen. Um Ereignisse wie in Hildesheim zukünftig verhindern zu können, müssen sich aber zunächst alle Beteiligten ihrer Verantwortung bewusst sein. Die Un-Kultur des Wegschauens und des Laissez-faire muss ein Ende haben."