Die Europäische Union steht vor dem folgenreichsten Ereignis ihres 46-jährigen Bestehens: Am 1. Mai werden ihr zehn mittel- und osteuropäische Staaten beitreten. Der ursprünglich westeuropäische Verbund wandelt sich endgültig zu einer den gesamten Kontinent überspannenden Institution. Der Charakter der EU dürfte sich ebenfalls grundlegend ändern. Von den kleinen Inselstaaten Malta und Zypern abgesehen, eint die Beitrittskandidaten, dass sie bis zum Zusammenbruch des Ostblocks vor eineinhalb Jahrzehnten zum sozialistischen Lager zählten. Im Binnenmarkt werden sich riesige Unterschiede auftun. Die Bevölkerung der Altmitglieder reagiert mit Sorge, hat Angst davor, dass Arbeitsplätze gen Osten abwandern. Eine breite öffentliche Debatte über Chancen und Gefahren dieser Erweiterungsrunde findet jedoch nicht statt. Doch die eher verhaltene Stimmung der Altmitglieder rührt auch daher, dass die Aufnahme der Neuzugänge in die EU-Familie mit einem handfesten Familienkrach begann. Der Brüsseler Gipfel im Dezember 2003, auf dem eine gemeinsame EU-Verfassung verabschiedet werden sollte, scheiterte am Veto Spaniens und Polens. Beide lehnten das Prinzip der "doppelten Mehrheit" ab, nach dem der EU-Ministerrat künftig Beschlüsse fassen sollte. Sie beharrten stattdessen auf der Fortgeltung des Vertrags von Nizza, der ihnen einen höheren Stimmenanteil einräumt.
Diese atmosphärischen Spannungen waren auch bei einer Podiumsdiskussion deutlich zu spüren, zu der die Europäische Akademie Berlin Vertreter der drei bevölkerungsstärksten Beitrittsländer Polen, Tschechien und Ungarn eingeladen hatte. Moderator Alfred Eichhorn vom Inforadio Berlin-Brandenburg hatte es schwer, gemäß dem Motto "Die EU-Erweiterung wird konkret - Was bringen die ‚Neuen' ein?" den Gästen zu entlocken, wie ihre Länder die EU bereichern könnten. Janusz Reiter, Leiter des Zentrums für Internationale Beziehungen in Warschau und früher Polens Botschafter in Deutschland, verlangte dagegen von den Altmitgliedern, sich zu verändern: "Der Westen muss einsehen, dass er kein Monopol auf die Definition des Europäischen hat. Die Altmitglieder müssen den Eindruck vermeiden, dass sie sich für das Original halten und die Neuzugänge für die Kopie."
In diesen Worten wurde das gewachsene Selbstbewusstsein eines 40-Millionen-Volkes erkennbar, das ein Jahrzehnt kräftigen Wirtschaftsaufschwungs und durchgreifender innerer Reformen hinter sich hat. Zudem wurde Warschau für seine Unterstützung der USA im Irak-Krieg von Washington mit dem Kommando über die multinationale Streitmacht in der südirakischen Sicherheitszone belohnt. Polen werde nicht mehr als Bittsteller auftreten, kündigte Reiter an: "Wir brauchen eine neue Rollenverteilung in der EU. Deutschland ist nicht mehr Polens Anwalt, Polen klopft nicht mehr an Europas Tür an." Deutschland und Frankreich warf er vor, wegen eigener Reformunfähigkeit von Motoren der europäischen Einigung zu deren Bremsern geworden zu sein.
Unbehagen über Arroganz und Ignoranz der EU-Altmitglieder klang auch in den Beiträgen der übrigen Teilnehmer an. "Die Phase, in der Osteuropa als exotisch wahrgenommen wurde, ist vorbei. Wir müssen zu Europa selbstverständlich dazugehören", mahnte Zsuzsa Breier, Kulturattaché der Ungarischen Botschaft. Sie beklagte, dass das Interesse des Westens an dieser Region nach dem Fall der Mauer rasch abgeflaut sei.
Ihre Heimat werde nur durch "schmale Kanäle" wahrgenommen und tauche allenfalls bei Skandalen oder mit Kurzmeldungen in hiesigen Medien auf. Für dieses Aufmerksamkeitsdefizit machte sie unterschiedliche Wertmaßstäbe verantwortlich: Während die EU vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft sei, begriffen sich die Neumitglieder in erster Linie als Kulturnationen. Mit der von ihr organisierten Veranstaltungsreihe hofft Breier, die Deutschen mit dem kulturellen Reichtum der Beitrittsländer vertrauter zu machen.
Ähnlich argumentierte der künstlerische Leiter des Festivals "Prag-Berlin", der Tscheche Dusan Robert Parisek: "Die neuen EU-Mitglieder haben Bedenken, bevormundet zu werden." Trotz ihrer Aufholjagd in den 90er-Jahren könnten sie bei der Wirtschaftskraft noch nicht mit den Altmitgliedern mithalten. Doch verfügten sie über "einen entscheidenden Teil der europäischen Kultur. Was Tschechien anbieten kann, sind immaterielle Werte. Das ist gut für die Entwicklung einer europäischen Kollektivseele." Diese Betonung spiritueller Gemeinsamkeiten mag Alteuropäer irritieren, die ihre Union nur noch als Dauerstreit über Fördermittel und Binnenmarktregeln erleben.
Damit knüpfte der Tscheche jedoch an die Debatte über die Eigenart "Mitteleuropas" an: Dieser Begriff erlebte in den 80er-Jahren eine Renaissance und half damals, den Systemwechsel vom Kommunismus zum Kapitalismus intellektuell vorzubereiten und seine Folgen zu verarbeiten. Und er könnte identitätsstiftend für eine EU wirken, die über ständigen Geldsorgen ihren Daseinszweck aus den Augen zu verlieren droht. Daher hob Parisek hervor, sein Land liege in der "Mitte Europas" und nicht im Osten.