Der dramatische Zerfall der SPD verlangt nach einer Erklärung: unausweichliche Strukturkrise oder handlungsbedingtes Führungsversagen? Strukturkrise hieße, dass man Ursachen der Sozial- und Problemstruktur konstatiert, bei denen eine Führung, wie immer sie es anstellt, mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern muss. Führungsversagen würde bedeuten, die Führung ist unfähig zu prinzipiell möglicher, in nachweisbaren Fällen erfolgreicher Bewältigung von strukturellem Stress. Eine Partei muss mitspielen, aber erst einmal braucht es eine Parteiführung mit dem Willen und der Fähigkeit zum Aufbau von Strategiefähigkeit und der Kunst strategischer Steuerung. In deren Fehlen liegt heute eine wesentliche Erklärung, warum die SPD in einem scheinbar ausweglosen Tief steckt, in deren Vorhandensein, warum die Grünen derzeit einen Höhenflug erleben.
Die Bundestagswahl 2002 zeigte drei Mehrheiten, über die sich zuletzt die Machtverteilung auf der Bundesebene entschied: eine soziale und kulturelle als rot-grüne, eine ökonomische als schwarz-gelbe Mehrheit. In Fragen sozialer Gerechtigkeit und kultureller Modernisierung gab es damals in allen Alterskohorten bis zu den 60-Jährigen rot-grüne Mehrheiten, CDU/CSU und FDP dominierten mit ihrer ökonomischen Monothematisierung (und ihrer "materialistischen" Wertorientierung) bei den über 60-Jährigen Wählern. Optimistisch betrachtet, konnte man aus der Bundestagswahl schlussfolgern: Mehrheiten sind mehr denn je von Themen abhängig. Jedes der beiden Lager hat insofern eine strukturelle Mehrheitschance - je nach Großthemen, welche die Bürger bei einer Wahl bewegen. Mindestleistungen im Regierungsprozess und die Verfügbarkeit plausibler Mobilisierungsthemen gehören zu den notwendigen Bedingungen solcher Wahlerfolge. Skeptischer betrachtet, verdankt die SPD zwei Ausnahmewahlen ihre Macht: 1998 der Abwahlkonstellation der Kohl-Regierung, die nach 16 Jahren durch offenkundigen Verschleiß und Überdruss gekennzeichnet war, 2002 den Zufällen Irak und Flutkatastrophe, aus denen Rot-Grün Vorteile ziehen konnte.
In das Wählermandat für die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung flossen 1998 drei Einschätzungen ein, die vor allem auf Erwartungen beruhten: Schröder als der bessere Kanzler, die SPD als die Partei, welche die Wirtschaft ankurbelt und die Arbeitslosigkeit verringert, nicht zuletzt ein Abbau der Gerechtigkeitslücke durch die SPD. Seither hat die SPD in allen drei Punkten ihre Wähler enttäuscht. Ausdruck dieser Enttäuschung waren die Abstürze 1999 und 2002 gleich nach der Wahl, wobei sie sich 2000/2001 wegen der Krise der CDU und einer günstigen Konjunktur vorübergehend erholen konnte. Diese externe Hilfe blieb nach dem Absturz im Herbst 2002 aus, so dass sich die SPD seither in einem Dauertief befindet. Die Enttäuschung der Wähler resultierteaus dem ausbleibenden wirtschaftlichen Aufschwung und der sozialen Gerechtigkeitslücke. Seit Herbst 2002 kommt zur inhaltlichen die personelle Enttäuschung hinzu. Hatte Schröder am Wiederaufstieg der SPD seit Anfang 2000 seinen Anteil, scheint sein politisches Kapital bei vielen Wählern seit Ende 2002 verbraucht. Nun ist er Teil des Abstiegs der SPD geworden.
Der Spagat zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern, der die SPD seit den frühen achtziger Jahren gehemmt hatte und der 1998 im Zeichen einer scheinbar harmonischen Einheit von "Innovation und Gerechtigkeit" überdeckt worden war, brach schon 1999 wieder auf und begleitet die SPD im Regierungsprozess. Viele Wähler der neuen Mitte kehrten zu den bürgerlichen Parteien zurück, eigene Anhänger gingen vor allem wegen Enttäuschung in Gerechtigkeitsfragen auf Distanz. Die größten Verluste bei der Bundestagwahl 2002 und den nachfolgenden Zwischenwahlen erfuhr die SPD bei den Arbeitern - die Unionsparteien erlebten genau hier ihre größten Zugewinne.
Werte sind biegsam. Auch die rot-grüne Wertemehrheit ist nicht auf Dauer stabil. Die Ökonomisierung des Bewusstseins, forciert durch die mehrjährige Malaise, und die Verstärkung des Sicherheitsdenkens, nicht zuletzt durch den weltweiten Terrorismus, zehren an der Substanz des stattgefundenen Wertwandels. Der Atom- und Zuwanderungskonsens vergangener Jahre - Mehrheiten von über 50 Prozent - kommen ins Rutschen. Nun gibt es eine deutliche Mehrheit für eine Verlängerung der Laufzeit bestehender Atomkraftwerke, und die auf Verschärfung setzende Mehrheitstendenz bei der Zuwanderung findet nun bei der Union den Akteur, dem die größte Kompetenz zugetraut wird.
Dafür, dass der Niedergang der SPD selbstverschuldet war, gibt es zwei Belege: der kontext-vergessene Absturz nach der Wahl 2002 und das völlig unvermittelte, harte Sozialprogramm der Agenda 2010. Demoskopisch verlor die SPD in den sechs Wochen nach dem 22. September 2002 zehn Prozentpunkte, in den Monaten nach der Ankündigung der Sozialreformen im März 2003, vor allem im Herbst desselben Jahres, als die Kritik aus Fraktion und Gewerkschaften ihren Höhepunkt erreichte, noch einmal etwa fünf Prozent. Im September 2002 lag sie bei 38,5 und erreichte im Juli 2004 gerade noch 23 Prozent.
Die größere Enttäuschung lag in den nicht erfüllten Erwartungen nach der Bundestagswahl. Eine weitergehende Desillusionierung von Kernwählern über die Agenda 2010, die in deren Augen Parteiprinzipien verletzt, kam noch hinzu. Beide stabilisierten sich nicht nur in den Landtagswahlen und der Europawahl 2003/4, sie verstärkten sich zu einer Abwärtsspirale individualisiert-entfremdeter Wähler. Dabei kam es zu Wanderungsbewegungen in Richtung anderer Parteien (vor allem zu CDU/CSU), sie waren aber geringer als die Zahl der Wahlenthaltungen. Viele sozialdemokratische Wähler blieben ratlos oder verbittert zu Hause.
Aus der Wählerwanderung allein kann die SPD schon aus einem Grund nicht lernen: Sie verliert in alle Richtungen gleichzeitig. Nach Rechts und nach Links, im Westen wie im Osten (vor allem zur PDS), bei Gewerkschafts- wie bei Nichtmitgliedern. "Mehr Gerechtigkeit, weniger Modernisierung" wäre in solcher Lage einer allseitigen Diffusion ebenso falsch wie das Gegenteil. Auch von den Wählern her gesehen, kann die SPD nur mit einer integrierten Botschaft erfolgreich sein.
Es gibt zwei Möglichkeiten: Wie bei den Grünen zwischen 1999 und 2002 will jeder der SPD persönlich sagen, dass er enttäuscht ist. Dazu bieten sich Zwischenwahlen geradezu an. Danach erst werden die Karten für die Bundestagswahl neu gemischt. Oder, wahrscheinlicher: Wie bei den Erfolgen desRechtspopulismus und dem gleichzeitigen Abschmelzen der Wahlbeteiligung seit den achtziger Jahren - Protest und Rückzug unterer Sozialschichten, die vorzugsweise aus sozialdemokratischen Wählerpotentialen gespeist wurden - verliert die SPD dauerhafter beim "neuen Unten", den Verlierern von Globalisierung und Modernisierung. Ein Ausscheiden dieses unteren Fünftels aus dem normalen Politikprozess, ihr Rückfall in anhaltende politische Apathie, eine solche "Amerikanisierung von unten" würde die Integrations- und Mobilisierungsaufgaben der SPD vergrößern. Allerdings würde sie - ebenso wenig wie durch den ständig rückläufigen Anteil der Arbeiter an der Erwerbsbevölkerung - allein dadurch zum geborenen Verlierer gestempelt. Neue Programm-Synthesen, Links-Populismus, eine kompensierende Mittelschicht-Strategie - der Parteiakteur ist erst dann Opfer von Strukturwandel, wenn ihm nichts mehr einfällt.
Die Koalitionsverhandlungen im Herbst 2002 waren ein Politik- und Kommunikationsdebakel erster Klasse. Von Schröder genährte hohe Erwartungen auf einen bevorstehenden wirtschaftlichen Aufschwung, das Propagieren schneller, positiver Wirkungen der Hartz-Reformen, das Reklamieren sozialer Gerechtigkeit für die SPD verschafften Schröder und der SPD noch einmal Vertrauen. Nach der Wahl kam die massive Enttäuschung über die Verschlechterung der wirtschaftlichen und Haushaltslage, der weithin "gefühlte" Wahlbetrug auch hinsichtlich des Schuldenrekords, die Ankündigung von Steuern- und Abgabenerhöhungen. Das alles führte in wenigen Wochen zu einer tiefgehenden Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrise, die der SPD, Kanzler Schröder und Finanzminister Hans Eichel, nicht aber den Grünen zugerechnet wurde.
Die Agenda 2010 ist ein komplexes Gesamtprojekt aus mehreren Teilprogrammen in verschiedenen Politikfeldern (Haushalt, Konjunktur, Arbeit, Wirtschaft, Gesundheit, Rente, Bildung, Forschung), das schon sachlich schwer auf den Begriff zu bringen ist. Eine inhaltliche Vereinfachung wäre durch Zuspitzung der Ziele möglich gewesen. Aber auch hier findet sich ein Potpourri von weit mehr als fünf beliebig zu wählenden statt zwei verbindlich kommunizierten Zielen. Jeder hatte und hat bei der Agenda 2010 etwas anderes im Kopf. Das Fehlen einer kommunikativen Linienführung bewirkte, dass die Agenda von einer breiten Öffentlichkeit mit den Augen der schärfsten Kritiker wahrgenommen wird, definiert durch die zwei, drei "schlimmsten" Punkte.
Dass bei offensiver Begründung und geduldiger Erläuterung darin auch Elemente des künftigen, mehr aktivierenden und qualifizierenden statt des nachträglich kompensierenden Sozialstaats enthalten sind, ging weitgehend unter. Dazu trug erheblich bei, dass schon innerhalb des rot-grünen Lagers das Verhältnis der Agenda zur sozialen Gerechtigkeit unklar blieb.
War das Reformprojekt in sich gerecht, etwa im Sinne eines "Alles, was Arbeit schafft, ist gerecht"? Oder war sie nur perspektivisch, das heißt auf längere Sicht gerecht? Etwa dadurch, dass sie den bedrohten Sozialstaat erhält, zukunftsorientierte Handlungsfähigkeit sichert (zum Beispiel durch Umschichtung von Mitteln des Sozialetats für Forschung und Bildung) oder späteres Wirtschaftswachstum ermöglicht? Oder war die Agenda nur kompensatorisch gerecht? Durch das Gegengewicht eines "richtigen" Projekts sozialer Gerechtigkeit - das es nicht gab. Alle Positionen wurden vertreten, so dass auch in dieser wichtigen Frage Unklarheit bestand.
Die Agenda 2010 polarisierte die Öffentlichkeit zwischen gleich großen Lagern, die meinten, die Sozialreformen "Gehen zu weit" oder "Gehen nicht weit genug". Nur wenige fanden die von der Regierung gewählte Dosierung richtig. Mehr als zwei Drittel der Bürger meinten im Juli 2004, die SPD kümmere sich "zu wenig um Ausgleich zwischen Arm und Reich", vor allem die abgewanderten Wähler hatten die SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit abgeschrieben (Infratest dimap).
Die Agenda 2010 wurde in der wirtschaftlichen Krise platziert, dadurch konnten die restriktiven Eingriffe nicht durch einen günstigen Arbeitsmarkt aufgefangen werden. Vielmehr kumulierten die Negativeffekte, so dass mindestens kurz- und mittelfristig Enttäuschung geschaffen wurde. Unter den Experten herrschte Ungewissheit über die ökonomischen Effekte dieser Rosskur, bei der Bevölkerung massive Skepsis. Programmatisch und diskursiv völlig unvorbereitet, war die Agenda ein Tabubruch in einem zentralen Identitätsbereich der SPD, vergleichbar einer Empfehlung der Union für den Schwangerschaftsabbruch. Politisch schwierig, aber in großen Teilen zukunftsorientiert und auch unter Gerechtigkeitsaspekten begründbar, war sie eine kommunikative Katastrophe, die auch durch "nachgeschobene", immer noch nicht einheitliche Argumente nicht aufgefangen werden kann. Drei Viertel der Bürger kritisierten noch im Juli 2004, die SPD habe "den Bürgern nicht genug erklärt, warum die Reformen notwendig sind". Dabei zählt vor allem, was die politische Spitze an überzeugenden Begründungen beizutragen hat, nicht was insgesamt geredet wird.
In der Systematik von strategy making gibt es drei Erklärungsfaktoren für die anhaltende Schwäche der SPD. Es sah nur so aus, als seien mit dem Abgang Oskar Lafontaines im März 1999 die Führungsprobleme der SPD behoben. Tatsächlich war die Balance in der heterogenen Partei massiv gestört. Die kollektive Führung Schröder/Lafontaine, die auf Scheinklärungen aufbaute, hätte durch eine neue kollektive Führung ersetzt werden müssen. Wofür Schröder richtungspolitisch stand, konnte niemand sagen - auch er selbst nicht. Die Einzelführung durch den Parteivorsitzenden Schröder war zum Scheitern verurteilt. Seine Schwächen wurden zwischen 1999 und 2002 durch Franz Müntefering in der Funktion des Generalsekretärs teilweise aufgefangen. Aber es war ein Notbehelf, der Schröder aus seiner Hauptverantwortung für die richtige Weichenstellung nicht entlassen konnte. Ein Grundzug Schröderschen Regierens blieb: Er konnte weder die Partei mitnehmen noch ein Äquivalent für die Gerechtigkeitspositionen Lafontaines aufbauen.
Als Müntefering im Herbst 2002 den Fraktionsvorsitz übernahm, brach die Partei definitiv weg. Der von Schröder ausgewählte Nachfolger Olaf Scholz brachte die Partei mehr gegen sich auf, als dass er sie hinter sich vereinigen konnte. Die Abschaffung von "Sozialismus" als Parteiziel - irrelevant für die Praxis - war genau das, worauf die Partei als Begleitung der Agenda 2010 gewartet hatte! Der Rückzug Schröders vom Parteivorsitz im Januar 2004 war das Eingeständnis seines Scheiterns bei der Integration der SPD. Gleichzeitig war sie Ausdruck einer grundlegenden Schwäche der Partei, die, will sie erfolgreich sein, wegen ihrer inneren Widersprüchlichkeit auf kollektive Führung angewiesen ist - wie schon in ihren 16 Regierungsjahren mit Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner.
Müntefering, der nicht Kanzler werden will, sitzt, wie damals Wehner, am längeren Hebel - nur, dass er niemanden mehr hat, um Schröder auszutauschen. So wird er immer die längerfristigen Interessen der SPD im Auge behalten - für die Zeit nach der Regierung Schröder. Das Nebeneinander zweier Perspektiven ist aber noch keine kollektive Führung. Schröders "Reform für das Land" - auch wenn die Partei dabei kaputt geht. Münteferings "Überleben der SPD" - weil sie später noch einmal für das Land gebraucht wird.
Der Kanzler versagt auch in dem unmittelbar von ihm zu verantwortenden Bereich der Regierungssteuerung. Zwar ist die Politiksteuerung im Kanzleramt mit Frank-Walter Steinmeier gut besetzt, dagegen sind die Kompetenzbereiche strategische Kommunikation und gesamtstrategische Linienführung unbesetzt. Ein Regierungschef muss nicht alles selbst können, aber er muss wissen, was er braucht und was er nicht kann. Das ist bei Gerhard Schröder nicht der Fall.
Eine Lehre hat die SPD aus ihrer Regierungstätigkeit von 1966 bis 1982 gezogen, in ihrem Berliner Grundsatzprogramm von 1989 festgeschrieben und dann doch unter Schröder sträflich vernachlässigt: "Reformarbeit vollzieht sich oft in kleinen Schritten. Mehr noch als auf die Größe der Schritte achten wir auf die Erkennbarkeit der Richtung." Diese "Erkennbarkeit der Richtung" setzt eine Policy-Linie voraus, welche die Projekte inhaltlich verknüpft, und eine Kommunikations-Linie, die sie für Orientierung und Argumentation anschlussfähig macht. Das Fehlen von beidem hat die Regierung noch nicht einmal als Problem beschwert - aber die Wähler.
Jahrelang hatte der Kanzler keinen nachvollziehbaren Kurs sozialdemokratischer Regierungsarbeit. Jetzt, wo er erleichtert ist, mit der Agenda 2010 eine Richtung gefunden zu haben, und sich freut, wenn auch von der falschen Seite, als prinzipienfest gelobt zu werden, können viele seine Politik nicht mehr als sozialdemokratische erkennen. Mit der ökologisch-libertären Koordinate, auf der Kernprojekte der Grünen platziert sind, konnte Schröder nie viel anfangen: Er sah sie als Randthemen, hat die grünen Forderungen mächtig zurechtgestutzt, um sie anschließend - zum Beispiel im Wahlkampf 2002 - als eigene Erfolge zu verkaufen.
Auf der Koordinate, die zwischen Markt/Wachstum und Gerechtigkeit aufgespannt ist, und auf der die sozialdemokratischen Kernthemen liegen, ist er herumgeirrt. "Innovation und Gerechtigkeit", der sozialdemokratische Versuch, die Gegensätze zusammenzuspannen, war als Kompass, der den Weg zur Macht zeigte, erfolgreich - beim Regieren ging er verloren. Eine konzeptionelle Ausgestaltung hat nie stattgefunden, das erhebliche Kommunikationspotential des Begriffspaars wurde nie entfaltet. Jetzt gibt es eine "Innovationsoffensive" (2004), von der bestenfalls, wenn auch nicht zur Freude vieler Sozialdemokraten, "Eliteuniversitäten" hängen geblieben sind, und eine Agenda 2010, die viele Sozialdemokraten nicht als "sozial gerecht" nachvollziehen können.
Seit sich 1999 zeigte, dass es zuvor zwischen Lafontaine und Schröder nur Formelkompromisse gegeben hatte, war die Partei außerstande, die verschleppte Neudefinition nachzuholen. Neuer Sozialstaat, neuer Gerechtigkeitsbegriff, neues Freiheitsverständnis, gestärkte Eigenverantwortung - bis heute symbolisieren diese Begriffe ungeklärte Richtungsfragen. In der größten Not soll nun doch noch das lange aufgeschobene neue Grundsatzprogramm entstehen - unwahrscheinlich, dass die Partei in einem Jahr schafft, was sie zehn Jahre lang vor sich her geschoben hat.
Richtungsunsicherheit kann durch starke Strategiekompetenz nicht ausgeglichen werden, durch Strategieschwäche aber wird sie potenziert. Kommunikation, Bündnispflege, Parteisteuerung sind drei Anwendungsfelder von Strategiekompetenz - für die regierende SPD sind es Schwächezeichen. Strategische Kommunikation lässt sich nur im Zusammenspiel mit politischer Linienführung entfalten. Eine Reformpolitik, der die Begriffe fehlen, die dem gegnerischen Lager zugeordnet wird, von den eigenen Leuten an Podiumstischen, in Betrieben und auf Marktplätzen nicht erklärt werden kann, ist - ob richtig oder falsch - kommunikativ ein Desaster.
Die Bündnispflege versagte hinsichtlich der Gewerkschaften, mit denen allein die SPD noch nicht gewinnt, aber gegen die sie bei Wahlen verloren ist. Die Differenz zwischen "Umbau" (SPD) und "Abbau" des Sozialstaats (Gewerkschaften) beschreibt die zwei Welten, in denen die Akteure leben. Entfremdung und Entkopplung bestimmen das Verhältnis, und typische Gewerkschafter zählen nicht mehr zu den Aktiven der SPD, die Parteiführung hat, freundlich formuliert, ein distanziert-taktisches Verhältnis zu den Gewerkschaften. Dabei hätten wesentliche Anstöße für ein politisches Umdenken der Gewerkschaften von der SPD kommen müssen.
Parteisteuerung gelingt nie mit der Brechstange, mit häufig wiederholten Drohungen des Rücktritts, Regierungsverlusts oder einer angeblich alternativlosen Realität. Generalsekretär Scholz, der ja wenigstens als Frühwarnsystem hätte dienen müssen, wurde 2003 zusammen mit der Parteiführung von der innerparteilichen Kampagne für ein Mitgliederbegehren überrascht - ein früher Vorläufer der Bewegung für die Neugründung einer Linkspartei 2004. Abspaltung ist immer auch ein Schwächezeichen für die Mutterorganisation. Starke Mehrheiten für die Agenda 2010 auf Parteitagen (Berlin, Bochum) zeigten nur die Fassade von Geschlossenheit - dahinter fehlte es an Überzeugung. Sichtbar wird eine Parteispitze, die über Identitätskerne der Partei erst wieder von außen durch Demoskopie und Wahlergebnisse informiert werden muss. Die dabei versagt, durch Diskussion und Programmarbeit, Führung und Responsivität Partei und Wähler "mit zu nehmen".
Die Grünen haben mit einem Zuwachs von 1,9 Prozent bei der letzten Bundestagswahl Rot-Grün gerettet. Hatten sie vor dem September 2002 vier Jahre lang alle 17 Wahlen verloren, so gab es danach nur Zuwächse. Die Grünen waren nicht betroffen von der Basisenttäuschung über die SPD nach der Bundestagswahl 2002, und sie haben eine Klientel von Bessergebildeten und Gutverdienenden, die von den Sozialreformen weniger betroffen sind. Grundlegender ist aber, dass ihnen der "nachholende Aufbau" von Strategiefähigkeit in der Regierung seit ihrem Parteitag in Münster (Juni 2000) gelang. Dafür lassen sich fünf Erklärungsfaktoren hervorheben:
Insgesamt hat sich der unverkennbare Wandel der Grünen von oben und von unten vollzogen. Von oben durch strategische Personensteuerung (und deren Steuerungsleistungen), von unten durch den Austausch von Mitgliedern, von oben wie von unten durch Organisationsreform, das Versickern von Strömungen und gemeinsame Lernprozesse.
Trotz klarer Verbesserungen bleibt die Führungsfrage ungesichert. Das liegt an der Doppelherrschaft der formell-demokratischen Normalstruktur und des informell-autokratischen Fischerschen Bonapartismus. Die fast normale Parteidemokratie der Grünen und Fischers Ausnahmeherrschaft, die er seit Mitte der neunziger Jahre auf- und seit 1998 in der Regierung ausgebaut hat, sind im Parteirat repräsentativ-demokratisch, auf Parteitagen plebiszitär-demokratisch verflochten. Gegen Fischer ist aber keine wesentliche Richtungs- und Personalentscheidung durchzusetzen - und, soweit er Interesse hat, weniger wichtige auch nicht.
Die Führung bewundert nicht nur seine Brillanz, sie ächzt auch unter seiner Penetration und Penetranz - aber sie braucht ihn. Die wirkliche Belastungsprobe fände erst bei Abgang Fischers statt - Ausgang ungewiss. Ob sein Bonapartismus ein Übergangsregime von der selbstzerstörerischen Basisdemokratie zu einer ganz normalen innerparteilichen Demokratie ist oder ob er dem Unglück der Basisdemokratie ein zweites Unglück hinzugefügt hat, nach dem die Partei neu beginnen muss, wird sich nach seinem Abgang zeigen. Dann wird man wissen, wie sehr die Parteielite inzwischen die Bedeutung der Führungsfrage für einen erfolgreichen Kollektivakteur internalisiert hat.
Aus der Opposition heraus wäre eine Legitimierung von Krieg und deutscher Kriegsbeteiligung (unter welchen Bedingungen auch immer) für die Grünen nicht möglich gewesen. In der Regierung war die Kriegsfrage dann verknüpft mit der Frage des Weiterregierens oder des schnellen Gangs zurück in die Opposition, möglicherweise des Endes der Grünen. Die Härte des Regierens hat den grünen Richtungswechsel hin zu einer Kriegsbeteiligung möglich gemacht. Die Zustimmung zur Kosovo-Intervention (1999) hat das Afghanistan-Engagement (2001) erleichtert, beide haben den Widerstand beim Irakkrieg (2003/2004) erst ermöglicht.
Nach der Abschleifung des durch Bewegungsherkunft und Opposition überdimensionierten Erwartungshorizonts vor allem in den grün-kritischen Themenfeldern ist die verbliebene programmatische Spannbreite kompatibel mit einer normalen Regierungspartei. Auch ihr Godesberger Programm, das Grundsatzprogramm von 2002, haben die Grünen, entgegen verbreiteter Skepsis (auch meiner eigenen), in der Regierung zustande gebracht. Es hat die konstruktive Beschäftigung von Aktiven und kooperativen Strömungseliten in kritischen Regierungszeiten eingebunden, ist in seiner Grundanlage inklusiv und integrierend, nimmt den Regierungspragmatismus mit auf und geht dennoch über den Horizont dieser Regierung hinaus. So hat es zur Beruhigung von Richtungsfragen, zur Integration und Orientierung der Partei erheblich beigetragen.
Erst die Themen- und Programmsteuerung der Partei seit 2001 hat eine gewisse Verbindlichkeit in das Koordinatensystem und Priorisierungsschema der Partei gebracht. Danach gibt es zwar immer wieder Streit über den richtigen Weg vor allem in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, aber kaum mehr über deren insgesamt begrenzten Stellenwert für grüne Politik. Wenn Regierungsvertreter der Grünen im eigenen Kernbereich - zum Beispiel beim möglichen Verkauf der Atomfabrik Hanau an China - zu nachgiebig sind, weiß die Parteiführung, dass sie gegensteuern muss, ohne ihre Regierungsmitglieder zu desavouieren.
Die gewachsene strategische Manövrierfähigkeit zeigte sich deutlich beim Bundestagswahlkampf 2002. Anders als 1998 waren die Programm-, Personen- und Kampagnensteuerung, die enge, konstruktive Kooperation mit einer professionellen Agentur und die öffentliche Kommunikation fest in der Hand einer integrierten Parteiführung. Dies muss hier nicht in allen Dimensionen der Strategiekompetenz ausgeführt werden. Immer war es aber ein Ineinandergreifen von - wachsendem - Strategiewissen und der Fähigkeit zu strategisch orientiertem Handeln. So kommt es zu einer bewussteren Themensteuerung, die thematische Kernkompetenzen in den Mittelpunkt rückt, gleichzeitig Themeninnovationen forciert (zum Beispiel Frauen/Familien/Kinder-Thema, ökologische Landwirtschaft, Verbraucherschutz), die Themen der eigenen Minister in der Partei verankert (zum Beispiel Europapolitik) und Negativthemen herunterspielt (zum Beispiel die Dethematisierung, das agenda cutting deutscher Rüstungsexporte).
Die Geschlossenheit der Grünen, eine von den Wählern hoch bewertete, früher für die Grünen untypische Eigenschaft, profitiert zwar von den verbesserten Strukturen und Personalentscheidungen, ohne ein permanentes, sehr aufwendiges, nach innen und außen gerichtetes Kommunikationsmanagement kommt sie nicht zustande. Es gibt heute eine kommunikative Linienführung der Grünen, über Botschaften, Profil- und Imagesteuerung. Gleichzeitig wurden interne Telefonkonferenzen, SMS und das ewige Telefonieren zu wichtigen Instrumenten interner Kommunikationssteuerung: Sie bieten frühzeitig Sprachregelungen und Informationen, kanalisieren Unzufriedenheit und stärken den Konsens, sie erhöhen - durch wechselseitigen Austausch und Einflussmöglichkeiten - die Bereitschaft zur anschließenden Kommunikationsdisziplin.
Die SPD-Wählerschaft ist in der Koalitionsfrage so gespalten wie keine andere. Die Funktionsträger und dann auch die Führung wollten Rot-Grün, 1998 und 2002 hatten sie auch keine andere Wahl. Rückblickend mag sich die Partei fragen, ob sie bei den Sozialreformen besser abgeschnitten hätte, wenn sie in einer Großen Koalition gewesen wäre. Sicherlich gibt es einen Reiz der gemeinsamen Verantwortung für das Unangenehme. Sicher ist jedenfalls, dass es nicht die Grünen waren, die den Niedergang der SPD (mit) zu verantworten haben. Im Gegenteil, die Kanzlerschaft Schröders wurde im September 2002 durch die Zugewinne der Grünen gerettet. Und dennoch stellt sich die Frage, ob das Fundament nicht von Anfang an brüchig war.
Die anspruchsvollste grüne Selbstbeschreibung von Rot-Grün hieß "sozial-ökologisches Projekt". Die schlechter gestellten Sozialschichten sollten den ökologischen Umbau mittragen, weil er von einer kompensierenden materiellen Ausgleichspolitik begleitet war. Im Zeichen sozialer Sicherungspolitik kam es tatsächlich zu einer Akzeptanz postmaterialistischer Ziele (Ökologie, offene Gesellschaft etc.), soweit diese in der Politik von Rot-Grün eine moderate Realisierung fanden. Die Abwanderung der unteren Sozialschichten setzte nicht wegen der grünen, sondern wegen der sozialdemokratischen Reformpolitik ein. Dabei wurde aber sichtbar, dass die postmaterialistischen Wertorientierungen im unteren Sozialbereich eine nur schwache Verankerung gefunden hatten. Sie hielten - im Zeichen der Sozialkrise - Arbeiter, kleine Angestellte und Arbeitslose nicht davon ab, Rot-Grün die Unterstützung zu entziehen, auch ins bürgerliche Lager zu wechseln. Gleichzeitig schwächen die Mittelschichten, unter Hinweis auf "objektive Zwänge" wie Globalisierung, Alterung der Gesellschaft, Finanzkrise des Staates, ihre Solidarbereitschaft ab. Im Ergebnis ist somit der sozial-ökologische Gesellschaftsvertrag en miniature, an dem Rot-Grün gearbeitet hat, aufgekündigt.
Sollte Rot-Grün scheitern, werden insbesondere die Grünen die Frage einer Neuorientierung prüfen - ein Prozess, der schon 2004 mit der schweren Krise der SPD begonnen hat. Von einer Priorisierung und der wünschenswerten Kontinuität ökologischer Politik ausgehend, könnte der Klassen/Werte-Kompromiss nun mit dem bürgerlichen Lager gesucht werden. In die Farbenlehre der Parteien übersetzt, hieße dies Schwarz-Grün als Rettungsversuch insbesondere für eine ökologische Politik und für kulturelle Modernisierung. Der große Kompromiss zwischen der ökonomischen und der kulturellen Hegemonie.
Die nähere Zukunft umfasst immer noch mehrere reale Möglichkeiten:
Die Szenarien ließen sich vermehren. Wer glaubt, den Ausgang heute schon zu wissen, bereitet wahrscheinlich seinen nächsten Irrtum vor.