Im Zentrum des Interesses des Coburger Philologen Fritz Reheis steht die menschliche Zeiterfahrung, die er durch Okkupation des "Turbokapitalismus" gefährdet sieht. Der fortschreitenden Beschleunigung immer weiterer Lebensbereiche durch die Wirtschaft setzt er die Forderung nach "Entschleunigung" entgegen. Das populär verfasste und an einen breiten Leserkreis adressierte Buch ist in drei Teile gegliedert. Zunächst geht Reheis überzeugend den weithin bekannten, vielfach durchlittenen Symptomen erschöpfender Hetze in Arbeitswelt und Privatleben nach.
Im zweiten, etwas theoretischer gehaltenen Teil "Diagnose und Entstehungsgeschichte" wird die Beschleunigung aus Sicht unterschiedlichster Disziplinen erklärt. Neben biologischen Dispositionen sieht Reheis vor allem die Hierarchie der Märkte als Zeitdiebe. Die Märkte für Güter, Arbeit oder Ressourcen würden von den globalisiertenFinanzmärktenmit ihren auf Sekunden geschrumpften weitreichenden Entscheidungen unter radikalen Zeitdruck gezwungen.
Schwächer wird das Buch im dritten Teil, der "Therapie". "Slow food"-Bewegungen, individuelle Verhaltensänderungen oder auch Globalisierungskritiker wie "attac" werden kaum hinreichen, um sich gegen die mächtigen Beschleunigungsinteressen durchzusetzen. Wenn auch ein Königsweg zu menschlicherem Tempo kaum von einem Autor allein erwartet werden kann, hätte das Buch hier durch etwas mehr Realismus gewinnen können.
Altbundeskanzler Helmut Schmidt, gewiss nicht als grundsätzlicher Kritiker des Kapitalismus bekannt, bezeichnete 1998 in seinen "Düsseldorfer Vorlesungen" zur ökonomischen Globalisierung die Auswüchse des "shareholder value" als "Raubtierkapitalismus". Peter Jüngst, Sozialgeograph von der Universität Kassel, greift diese Metapher in seiner Psychopathologie des auf globale Dominanz zielenden US-amerikanischen spekulativen Kapitalismus auf.
Raubtieren und den Besitzern von Finanzkapital sei "Gier" als wesentlicher Antrieb gemeinsam. Jüngst zeichnet psychohistorisch nach, wie Gier derart wirkungsmächtig werden konnte, dass Michal Müller, Vizevorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, kürzlich einen nicht erklärten Wirtschaftskrieg zwischen den USA und Europa ausmachte.
Ausgehend von der Krise des "klassischen" fordistischen Kapitalismus, also der vornehmlich industriellen Kapitalverwertung, informiert Jüngst auf der Basis einer soliden Einführung in das sozialpsychologische Instrumentarium über psychologische Erklärungen pathologischer wirtschaftspolitischer Strategien.
Von den USA aus verbreite sich die "flexible Kapital-akkumulation", deren Durchsetzung durch den Wegfall derSystemkonkurrenz mitZusammenbruch des Realsozialismus begünstigt worden sei. Diese durch spezifisch amerikanische psychische Dispositionen induzierte Phase des Kapitalismus führe zur psychischen Labilisierung der Individuen und zur Auflösung gesellschaftlicher Kompromisse, die den Industriekapitalismus prägten: "Auf dem Hintergrund zunehmender Schwächung bisheriger psychosozialer Kompromissbildungen und Über-Ich-Positionen wurde ,Gier' als eine Mischung ‚desublimierter' Libido, aber auch Aggressivität freigesetzt."
Die freigesetzte "Gier" wirke - ausgehend von den Aktienbesitzern - direkt oder vermittelt auf die Entscheidungsträger der Unternehmen (Manager) und führe bei diesen zu einem Gemisch interdependenter psychischer Befindlichkeiten aus erzwungener Identifikation mit den Anteilseignern, aktivierten Ängsten, Aggressivität, narzisstischer Explosion und eigener Gier. Sich häufende kriminelle Handlungen von Managern nicht nur in den USA (Enron) belegen diese Sichtweise.
Die resultierenden Konzernstrategien (aktuelles, Jüngst noch nicht bekanntes Beispiel: General Motors/Opel-Saab), die eher auf kurzfristige Rendite als auf langfristigen Unternehmenserfolg zielen, hätten weitere psychosoziale Labilisierungen zur Folge. Verfolgt würden im Resultat Ausgrenzungsstrategien gegen Teile der eigenen Belegschaft oder Feinderklärungen gegenüber Wettbewerbern, die "kannibalisiert" (zerstört oder einverleibt) würden.
Letzteres sei nicht selten objektiv sogar gegen die ökonomischen Interessen der Handelnden gerichtet und offenbare dadurch die partielle Pathologie wirtschaftlichen Handelns. Der ständige Zwang zu steigenden Kapitalrenditen intensiviere diese Prozesse, die Jüngst zusammenfassend paranoid-schizoiden Verhaltens- und Denkweisen zuordnet.
Je widerstandsloser sich der "Raubtierkapitalismus" weltweit durchsetze, desto stärker würden seine Auswirkungen auf die Sozialisation nachwachsender Generationen. Eine ungesteuerte Sozialisation hin zu individualistischem aggressiven Verhalten werde, so prognostiziert Jüngst nicht zuletzt mit Blick auf die USA, nicht ohne Folgen für die demokratischen Institutionen, den sozialen Zusammenhalt wie auch für die Ökonomie bleiben. Für die Individuen bedeute die grenzenlose Durchsetzung flexibler Kapitalakkumulation wachsende Abhängigkeiten von Fremdsteuerungen.
Potenziert würden die auch im "Norden" spürbaren negativen Konsequenzen vor allem in den "Entwicklungsländern". Die in den letzten Jahren, etwa mit dem Irak-Krieg oder auch durch den Zusammenbruch des niederländischen Toleranz-Modells der Koexistenz unterschiedlicher Kulturen deutlich werdenden Kontroversen zwischen islamischen und "westlichen"Tradtioneninterpretiert Jüngst als beiderseitigen aggressiven Narzissmus.
Der Autor neigt nicht zur Entwicklung weitreichender Gegenkonzepte. Vielmehr sieht er als einen wichtigen Schritt zur Re-Humanisierung der Ökonomie die Aufdeckung "krankhafter Komponenten der Wirtschaft". Daher sei eine umfassende Bildung jenseits unmittelbar verwertbarer "Qualifikationen" zu fordern, um den beschriebenen negativen sozialisatorischen Tendenzen zu begegnen. Soviel Zeit, das meint auch Fritz Reheis, müsse die Gesllschaft sich lassen.
Peter Jüngst
Raubtierkapitalismus?
Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territtoriale Konflikte.
Psychosozial- Verlag, Gießen 2004; 262 S., 24,90 Euro
Fritz Reheis
Entschleunigung.
Abschied vom Turbokapitalismus.
Riemann Verlag München 2003; 319 S.,20,-Euro