Das symbolkräftige Bild vom dahinsiechenden Patienten, an dessen Bett überwiegend besserwisserische, seltener ratlose Doktoren stehen, hat Konjunktur. Hinter der Leidensgestalt verbirgt sich Deutschland; die selbsternannten Heiler rekrutieren sich aus Ökonomen und Journalisten. Zu ihnen hat sich nun der Chef der Wirtschaftsredaktion der "Süddeutschen Zeitung" gesellt, ebenfalls mit sorgenzerfurchter Stirn, aber immerhin mit dem Hang zu ein wenig Optimismus und einer auch für ökonomische Laien verständlichen Sprache.
Seine Diagnose unterscheidet sich nicht sehr von den Befunden all der anderen, ob sie nun aus dem Professorenstand kommen wie Hans-Werner Sinn oder aus Pipers Branche wie Gabor Steingart. Dass Deutschland Reformen braucht, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Nicht nur die Politiker wissen das, auch in der Bevölkerung greift diese Gewissheit um sich. Wenn es freilich an die Realisierung solcher Reformenimpersönlichen Umfeld geht, lässt das Verständnis für sie schlagartig nach.
Piper zieht gegen die Überzeugung vieler deutscher Landsleute zu Felde, etwas Besonderes und von der Globalisierung nicht betroffen zu sein. Deutlicher als mancher andere Autor benennt er eine der entscheidenden Ursachen für die ökonomische Misere des Landes: die deutsche Einigung und so manche fatale Entscheidung in ihrem Gefolge, etwa den Umtausch der einen in die andere Mark. Der Aufbau Ost gehe einher mit dem Abbau West.
Piper entlarvt das stolze Gefühl, Export-Weltmeister zu sein als trügerisch. Und immer wieder greift der flotte Formulierer dabei auf Bilder aus der Fußballwelt zurück: Die Deutschen seien wie eine Fußballmannschaft, die zwar noch einmal Vize-Weltmeister geworden ist, aber mit einem überalterten Team, mit frustrierten Reservespielern auf der Bank und einem lustlosen Trainer. Er beklagt die Wachstumsschwäche Deutschlands, die er Unternehmern, Konsumenten und einem erstarrten Arbeitsmarkt anlastet. Und es geht weiter über die deutsche Angst vor dem Wettbewerb und demografische Probleme bis hin zu der provokanten Frage, was sich denn eigentlich hinter dem Begriff von der sozialen Gerechtigkeit verbirgt, vielleicht sogar mehr Unsinn als Sinn.
Schon in seiner Einleitung versucht Piper seine Rezepte gegen Kritiker aus dem Lager der Nicht-Ökonomen zu schützen: Zwar gebe es weithin in der Gesellschaft "ein Verdikt gegen das Ökonomische", aber eigentlich hätten die Ökonomen die Deutungsmacht über ökonomische Sachverhalte verloren. Das darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, denn die Masse der einschlägigen volksmedizinischen Bulletins stammt schließlich aus der Feder studierter Volkswirte. Auch Piper betrachtet letztlich den Zustand des Patienten Deutschland durchseineÖkonomen-Brille.
Dieser Standpunkt lässt sich sehr wohl nachvollziehen. Nicht-Ökonomen, die gar nicht an der Richtigkeit vieler Diagnosen Pipers zweifeln, sind nur dann irritiert, wenn es um die empfohlenen Therapien geht. Da geht es ihm wie vielen Schulmedizinern, denen die Psyche ihrer Patienten ein Buch mit sieben Siegeln ist. Auch Nikolaus Pipers Elf-Punkte-Therapie, die Deutschland wieder auf die Beine verhelfen soll, ist eine schöne intellektuelle Fingerübung, die mit allem rechnet, nur offenbar nicht mit Menschen, mit denen sie und an denen sie praktiziert werden muss.
Nikolaus Piper
Willkommen in der Wirklichkeit.
Wie Deutschland den Abstieg vermeiden kann.
Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2004; 160 S.,12,-Euro