Bei den Europagegnern und den meisten fraktionslosen Abgeordneten überraschte die Ablehnung nicht. Das Gleiche gilt für die Vereinigte Linke, mit Ausnahme der deutschen PDS Abgeordneten Sylvia-Yvonne Kaufmann, welche schon im Konvent sowohl an der Verfassung als auch an der Grundrechtecharta intensiv mitgearbeitet hatte und nun mutig für die Verfassung stimmte - allen Vorwürfen und Drohungen aus ihrer Fraktion und ihrer Partei zum Trotz.
Mit dieser überaus großen Zustimmung zur Europäischen Verfassung hat das Europäische Parlament die Absicht erfüllt, ein deutliches Signal für den Auftakt einer breiten öffentlichen Kampagne zum Verfassungsvertrag zu setzen, um überall in den 25 Staaten der Union die Zustimmung der Bürger und der Parlament zu erreichen. In der in Straßburg geführten Debatte sagte der amtierende EU-Ratspräsident, Luxemburgs Europaminister Nicolas Schmit, im Namen der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, es sei eine Aufbruchsstimmung deutlich geworden, die den Bürger erkennen lasse, dass die Union mit ihren gemeinsamen Werten und Überzeugungen weit mehr sei als ein wirtschaftlicher Zusammenschluss.
Damit die Verfassung wie vorgesehen 2007 in Kraft treten kann, muss der Vertrag noch in mindestens neun der 25 EU-Staaten durch ein Referendum bestätigt und in allen Staaten von den Parlamenten ratifiziert werden. Die Nationalversammlungen von Ungarn und Litauen haben die Verfassung bereits mit überwältigender Mehrheit gebilligt.
In einer von den großen Fraktionen gemeinsam verabschiedeten Entschließung erklären die Abgeordneten, dass die Verfassung neben sichtbaren Vorteilen für die Bürger und die demokratische Entwicklung Europas einen stabilen und dauerhaften Rahmen für EU bilde. Damit die Ratifizierung bis Mitte 2006 abge-schlossen werden könne, müsse alle Mögliche getan werden, um die europäischen Bürger klar und objektiv über den Inhalt der Verfassung zu informieren. Die in der Öffentlichkeit einiger Länder geäußerte Kritik an dem Vertragstext sei völlig unberechtigt. So werde die Verfassung keinesfalls zu einem zentralistischen europäischen Superstaat führen und werde die soziale Dimension der Union eher stärken als schwächen. Auch bleibe das vielfältige kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas keinesfalls unbeachtet. Um eine möglichst objektive Information der Bevölkerung zu erreichen, fordert das Parlament die EU-Institutionen und die Regierungen der Mitgliedstaaten auf, umfassende Informationen zu verbreiten.
Im Einzelnen wird in der Entschließung darauf verwiesen, dass die Vielzahl der bisherigen, oft unübersichtlichen Verträge durch ein klar gegliedertes Dokument ersetzt werden, in dem die gemeinsamen Werte ausdrücklich verankert sind. Beschrieben werden die mit der EU verfolgten Ziele ebenso wie die nun eindeutige Abgrenzung der Aufgabenbereiche zwischen europäischer und nationaler Ebene.
Die bisher immer wieder zu Verwechslungen geführte Benutzung der Begriffe "Europäische Gemeinschaft" und "Europäische Union" hat ein Ende, weil nun nur noch die Europäische Union existiert. Ebenso reduziert wird die Vielzahl der bisher bestehenden Rechtsakte, wodurch es für den interessierten Bürger leichter wird, die europäische Gesetzgebung zu verstehen und zu verfolgen. Dazu wird auch die Arbeit des Europäischen Parlaments beitragen können, das nun zu einem gleichberechtigten Partner in der Gesetzgebung geworden ist. Zusätzlich können in der Zukunft auch die Nationalen Parlamente vorab ihre Stellungnahmen zu EU-Gesetzesvorhaben abgeben.
Als ebenso wichtig wird die Durchsetzung des Prinzips der qualifizierten Mehrheit an Stelle der bisherigen Einstimmigkeit bei der Beschlussfassung über die Gesetzgebung im EU-Ministerrat bezeichnet. Dadurch werde nicht nur die Handlungsfähigkeit der auf 25 Staaten angewachsenen EU gesichert, sondern Europa könne auch im außenpolitischen Bereich leichter tätig werden, wozu das durch die Verfassung neu geschaffene Amt eines Europäischen Außenministers beitragen solle. Damit werde vielleicht das bei den Partnern in aller Welt entstandene Bild von Europa als wirtschaftlichem Riesen, aber als politischem Zwerg verblassen.
Nicht vergessen werden sollte bei einer Beurteilung der durch die Verfassung erreichten Fortschritte, dass die Charta der Europäischen Grundrechte ein eigener Bestandteil der Verfassung und damit vor dem Europäischen Gerichtshof einklagbar werde. Indem die EU gleichzeitig mit der Annahme der Verfassung der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats beitritt, entstehe endgültig ein gesamteuropäischer Rechtsraum, in dem die Achtung der Grundrechte jederzeit auch gegenüber der Europäischen Union und dem eigenen Staat eingeklagt werden könne.
In der Debatte hob der britische Co-Berichterstatter Richard Corbett die durch den Verfassungsvertrag erzielten Fortschritte noch einmal hervor. Mit einem Präsidenten und einem ständigen Außenminister erhielten die übrigen Staaten der Welt endlich einen festen Ansprechpartner.
Als Vertreterin der EU-Kommission würdigte Vizepräsidentin Margot Wallström die entscheidende Rolle des Parlaments bei der Einsetzung, aber auch bei der Arbeit des Konvents. Das Ergebnis sei, auch nach der Überarbeitung durch die Regierungskonferenz, der bestmögliche Kompromiss. Dies werde offenbar auch von den Bürgern so gesehen, denn nach einer Umfrage des "Eurobarometers" unterstützten 68 Prozent der Befragten die Verfassung. Ein völlig neues Element der Bürgerbeteiligung sei die Möglichkeit, durch die Unterschriften von einer Million Bürger eine Gesetzesinitiative zu erzwingen.
Der Vorsitzende der Fraktion der Christdemokraten, Hans-Gert Pöttering, hob in der Debatte die Verankerung der christlichen Werte hervor und nannte die Verweise auf die Solidarität, die Würde älterer Menschen, die Rechte der Kinder und das Klonverbot als konkrete Ausformungen dieser Werte. Begrüßenswert sei auch der Bezug auf die jeweilige nationale Identität, womit zum Ausdruck gebracht werde, dass die Nationalstaaten weiterhin die Grundlagen der EU bildeten.
Im Gegensatz dazu sieht der Vorsitzende der Europäischen Sozialdemokraten, Martin Schulz, in der Verfassung eine intelligente Antwort Europas auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, indem das Nationalstaatsprinzip durch eine Supranationalität ersetzt werde. Die in ihr verankerten Werte seien universell und gültig gleichermaßen für Christen, Juden, Moslems oder Nichtgläubige.
Besondere Aufmerksam zog die deutsche Abgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann auf sich, die als einzige Vertreterin ihrer Fraktion für die Verfassung gestimmt hatte und scharf mit ihrer Fraktion - der Vereinigten Linken - aber auch mit ihrer eigenen Partei - der PDS - abrechnete. In der Begründung ihres "Nein zum Nein" nannte sie die Ablehnung eine strategisch falsche Entscheidung, weil trotz aller Schwächen der Verfassung die in ihr verankerten Werte, programmatisch dem Wertekanon der Europäischen Linken voll entsprächen.
Deshalb sei die Ablehnung auch ein Verrat an der Vision, wie sie einer der großen geistigen Vordenker im EU-Parlament, Altiero Spinelli, der italienische Antifaschist und demokratische Kommunist, als Mitbegründer der Europäischen Bewegung und Initiator des ersten Verfassungsentwurfs zur Gründung der Europäischen Union 1984 vorgezeichnet habe und die zur proeuropäischen Traditionslinie der Linken in Europa gehöre.