Der Missbrauch und der Weg in die Abhängigkeit lassen sich nicht auf eine isolierte Ursache zurückführen. Langjährige Untersuchungen mit verschiedensten Ansätzen haben gezeigt, dass die Ursache von süchtigem Verhalten durch unterschiedliche Faktoren und Voraussetzungen geprägt ist. So können sich Faktoren, die zum Einstieg in die Abhängigkeit führen, von denen des fortgesetzten Konsums unterscheiden. Abgesehen von soziostrukturellen, soziopolitischen und anthropologischen Bedingungen, muss den genetischen, psychologischen und neurobiologischen Faktoren bei der Entstehung und Aufrecht-erhaltung von Abhängigkeit eine große Bedeutung beigemessen werden.
Seit 1965 entspricht die Sucht-Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einer Klassifikation nach den verschiedenen Formen der Abhängigkeit. Hierbei werden mehrere Typen nach der spezifischen Konsumform von psychoaktiven Stoffen unterschieden (zum Beispiel: Morhintyp, Alkoholtyp, Kokaintyp, Cannabistyp, Amphetamintyp). Wie die rasante Zunahme des Drogenmissbrauchs unter Jugendlichen zeigt, lassen sich solche klaren Abgrenzungen in verschiedene, fest umrissene Typen nur noch selten durchführen. Der "moderne" Drogenkonsument ist häufig polytoxikoman, das heißt er konsumiert in Mischformen nach Stimmungslage und Verfügbarkeit verschiedene Substanzen gleichzeitig oder in kurzen Abständen. Eine Einteilung der bewusstseinserweiternden Substanzen kann nach deren Abhängigkeitspotential, psychischen und sozialen Auswirkungen sowie nach der chemischen Zusammensetzung erfolgen.
Nach internationalen Klassifikationssystemen wird Missbrauch einer bewusstseinserweiternden Substanz dann diagnostiziert, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien innerhalb eines Jahres erfüllt wird: Versagen beim Erfüllen wichtiger Verpflichtungen (Arbeit, Schule, Familie) aufgrund von Substanzkonsum; wiederholter Konsum in Situationen, in denen es deswegen zu körperlicher Gefährdung kommen kann; wiederholte Gesetzeskonflikte wegen Substanzkonsum; fortgesetzter Konsum trotz ständiger sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme, die durch die Einnahme verstärkt werden sowie gesundheitliche Folgeschäden. Um die Diagnose "Abhängigkeit von psychotropen (bewusstseinserweiternden) Substanzen" zu stellen, müssen mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sein: der starke Wunsch oder Zwang, solche Stoffe zu konsumieren; eine verminderte Kontrollfähigkeit im Umgang damit; Toleranzentwicklung, das heißt Dosissteigerung um den gewünschten Effekt zu verspüren; ein körperliches Entzugssyndrom; die Vernachlässigung sozialer und beruflicher Aktivitäten und der missbräuchliche Konsum, also einen anhaltenden Gebrauch trotz Nachweis eindeutiger Schäden.
Zusammenfassend kann man sagen, dass folgende Hauptmerkmale eine Abhängigkeit kennzeichnen: die psychische Abhängigkeit (wiederholte Einnahme, um positiven Zustand zu erreichen), die körperliche Abhängigkeit (Anpassung des Stoffwechsels: Toleranz- und Entzugserscheinungen) sowie soziale und gesundheitliche Auswirkungen (soziale Beziehungen, Leistungsfähigkeit, Beschaffungskriminalität). Charakteristisches Merkmal einer Abhängigkeit ist jedoch vor allem eine eingeschränkte Kontrolle über das Suchtverhalten, das trotz negativer Konsequenzen fortgesetzt wird.
Abgesehen von den oben dargestellten, die Abhängigkeit charakterisierenden Merkmalen, sind bei Betroffenen, neben genetischen Veranlagungen, gehäuft mit der Sucht zusammen auftretende Krankheiten, wie die Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur bis hin zu Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenien zu beobachten, die einerseits als prädisponierende Eigenschaften bereits vorhanden und andererseits als Folgeerkrankungen des süchtigen Verhaltens auftreten können.
Abhängigkeit ist ein über einen längeren Zeitraum hinweg stabiles Phänomen, bei dem Lernprozesse entscheidend sowohl zur Entstehung wie Aufrechterhaltung beitragen. Eine besondere Rolle kommt dabei, neben dem Lernen am Modell (Drogenkonsum der Eltern), weiteren Lernprozessen zu, wie den klassisch und operant konditionierten (erlernten) positiven Drogenerwartungen.
Das Modell der klassischen Konditionierung hat maßgeblich dazu beigetragen, die Entstehung des zwanghaften Drogenkonsums, aber auch die Mechanismen des Rückfalls zu erklären. So können ursprünglich neutrale Reize (die Umgebung bei der Drogeneinnahme, der Anblick der Spritze, bestimmte Gefühlszustände oder Erinnerungen an Konfliktsituationen) mit der Drogeneinnahme und Drogenwirkung assoziiert werden und dann als erlernte (konditionierte) Reize Drogenverlangen und -konsum auslösen. Als Beispiel sei hier ein Raucher genannt: Der gefüllte Magen, eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein und eine gegenübersitzende Person, die sich eine Zigarette anzündet, lassen den Raucher oft zu seiner eigenen Schachtel greifen.
Ein weiterer Lernprozess, die operante Konditionierung, trägt ebenso entscheidend zur Entwicklung einer Abhängigkeit bei. Nach dem Konsum der Droge wirkt der angenehme Effekt (Euphorie) belohnend, also verstärkend (positive Verstärkung) auf das Verhalten. Wenn durch die Einnahme Entzugserscheinungen sowie unangenehme Gefühle vermieden oder beseitigt werden, wirkt das ebenfalls verstärkend (negative Verstärkung). Diese Verstärkungsvorgänge tragen dazu bei, dass der Konsum von Drogen wiederholt wird. Das "Hirn" lernt nun, dass dieses Verhalten subjektiv guttuend ist. Durch die Wiederholung dieser Erfahrung über mehrere Jahre verlernt das "Hirn", sich mittels anderer Strategien zu belohnen. Somit steigt das Suchtverhalten in der individuellen "Triebhierarchie" nach oben, das heißt, dieses pathologische Verhalten wird über alle anderen Verhaltensweisen gestellt, um insbesondere in Stresssituationen das psychophysiologische Gleichgewicht (Homöostase) wieder herzustellen. Das pathologische Verhalten hat nun die Funktion einer inadäquaten, für den Betroffenen noch einzig anwendbaren Strategie "sich zu belohnen" bekommen.
Ein lerntheoretische und neurobiologische Befunde integrierender Ansatz wurde entwickelt, um die mit der Suchtentstehung zusammenhängenden Mechanismen genauer zu erklären. So wird postuliert, dass durch eine Sensitivierung des verhaltensverstärkenden Systems, auch Belohnungssystem genannt, eine erlernte Aufmerksamkeit gegenüber drogenassoziierten Reizen ausgelöst wird. Dies zeigt sich dann in einer erhöhten Aufmerksamkeit für drogenassoziierte Stimuli. Drogenassoziierte Reize rufen demnach einen spezifischen erlernten motivationalen Zustand hervor, der Drogenverlangen auslöst und zu einer erneuten Drogeneinnahme führen kann. Die assoziative Verbindung der Reizpräsentation mit dem Verstärkersystem führt unter anderem zur Bildung eines impliziten Gedächtnisses, das der bewussten Verarbeitung nicht zugänglich ist, dem so genannten Drogengedächtnis. Diese Gedächtnisbildung könnte dazu führen, dass auch nach jahrelanger Abstinenz drogenassoziierte internale und externale Reize zum überwältigenden Verlangen nach dem Suchtmittel führen. Möglicherweise wirken verhaltenstherapeutische Expositionstherapien, in denen das konditionierte Verlangen nach Drogen habituiert, auf dieses neurobiologische Verstärkungssystem ein. Auch die so genannten Anti-Craving-Substanzen (Anti-Verlangens-Substanzen) wie Naltrexon oder Dopaminantangonisten reduzieren möglicherweise die Anreize drogenassoziierter Stimuli, indem sie indirekt oder direkt die Dopaminfreisetzung im Belohnungssystem blockieren. Entscheidend ist jedoch, neben der Identifizierung von Situationen und Reizen die den Drogenkonsum motivieren, dass der Betroffene während seiner Abstinenzzeit und im Rahmen seiner Therapie neue, ihn belohnende Verhaltensweisen erlernt, um im Falle einer psychischen Belastung seine "Biochemie der Gefühle" durch adäquate Strategien wieder ins Gleichgewicht bringen zu können.
Dr. Sabine Grüsser leitet die Interdisziplinäre Suchtforschungsgruppe Berlin (ISFB) am Institut für Medizinische Psychologie der Charité.