Als der ungarische Hanfverein im April 2004 einen Antrag auf eine Demonstration beim Landespolizeiamt einreichte, ließ die Antwort ziemlich lange auf sich warten. Die Ordnungshüter mussten offensichtlich erst noch im aktuellen 190-seitigen Drogenbericht der Regierung blättern, um sich über die neuesten Richtlinien eine Orientierung zu verschaffen und danach einen Plan zur Vorbeugung eventueller Zusammenstöße auf der Straße zu entwerfen. Für beide Aufgaben gab es genügend Gründe. Der liberale Koalitionspartner der Regierung, der Bund der Freien Demokraten, plädiert seit längerer Zeit dafür, die so genannten leicht stimmungssteigernden Mittel wie Hanf, Marihuana und Haschisch aus dem Katalog der verbotenen Drogen zu entfernen. Für dieses Ziel kämpft ebenfalls der Hanfverein, dessen Kundgebungen mehrmals zu Ausschreitungen mit den Drogengegnern führten. Auf die Liberalisierungswünsche haben die Teilnehmer der Gegendemonstrationen bis jetzt immer mit Eierwürfen und Prügeleien reagiert.
Der spezielle und allgemeine Diskurs über Drogen hat eine relativ kurze, aber umso intensivere Karriere hinter sich. In der "fröhlichsten Baracke des real existierenden Sozialismus" existierten zwar gesetzliche Sanktionen des Drogenkonsums, diese wurden jedoch aufgrund des brennenden Alkoholproblems so gut wie nie thematisiert. Das Hauptaugenmerk war auf die trüben Statistiken zum Alkoholgenuss gerichtet, denn die Zahlen der Verbraucher stiegen - insbesondere seit 1978 - in regelmäßigen Abständen. Die ersten vorsichtigen Ergebnisse sozialpolitischer Forschungen und Umfragen sprachen von einer "schleichenden Tendenz". In der Folge mussten Betriebs- und Fabrikdirektoren sorgfältiger mit ihrem Bestand aus dem "Protokollschrank" umgehen, denn niemand konnte wissen, in welchem Gast oder Kollegen ein Geheimrevisor steckte.
Demgegenüber beschränkte sich der Drogengenuss für Privilegierte auf die illegale Einfuhr westlicher Rauschmittel, für das gemeine Volk wiederum, unter anderem Schüler, auf das Schnüffeln des flüssigen Klebstoffs "Technokolrapid". Die berüchtigte rote Tube mit goldener Inschrift galt seit den späten 70er-Jahren als auffällig, und es gehörte mit zur Aufklärung der Kinder, vor den schädlichen Wirkungen dieses chemischen Mittels zu warnen.
Die politische Wende sorgte dafür, dass auch dieses Kultprodukt aus den Regalen verschwand. Seitdem greift man nicht mehr zum Klebstoff mit dem dazu passenden Nylonsack, um sich durch einen Atemzug gute Laune zu verschaffen. Die freie Marktwirtschaft hat die Verbreitung der Vielzahl an existierenden Drogen ermöglicht, was Anfang der 90er-Jahre zum gründlichen Wandel der bisherigen Betrachtungsprinzipien führte. Die Justiz verabschiedete mit drakonischer Strenge ein Drogengesetz, das den Drogenkonsum jeglicher Art mit einem Freiheitsentzug bis zu drei Jahren bestrafte. In Weiterbildungskursen wurden Tausende von Polizisten darin geschult, Drogenkonsumenten aufzuspüren. Die Gefängniszellen füllten sich allmählich. Allein die Entdeckung von Marihuana in Hosen- und Manteltaschen galt als strafbar.
Erst 1994 geriet das Problem an die breite Öffentlichkeit, und zwar durch die Feder des Schriftstellers György Konrád, der diese Praxis der Kriminalisierung anprangerte. Heftige Reaktionen waren die Folge. Ein Teil der Öffentlichkeit reagierte mit Hass und warf dem Autor die Absicht vor, die Jugendlichen verderben zu wollen. Die Mehrheit der Leserbriefschreiber stimmte mit Konrads These überein, dass die pure Kriminalisierung die Betreffenden vor einer ärztlichen Behandlung abschreckt.
Die Paragrafen blieben zunächst unverändert, obwohl die Prävention und die Heilung allmählich in den Vordergrund rückten. Prospekte wurden gedruckt und verteilt. Die Schulkinder galten als Zielgruppe Nr. 1.
Mitte der 90er-Jahre wurde die Definition der Drogenkonsumenten festgelegt: "Zu solchen zählen Personen, die täglich oder anlassbedingt Drogen zu sich nehmen und in dem Verzeichnis der Drogenambulanzen, psychiatrischen Zentren, Heilstätten für nervenkranke Kinder und Jugendlichen, Kriseninterventionsabteilungen und drogentherapeutischen Institute als behandelte Patienten auftauchen." Demnach lebten im Jahr 1997 in Ungarn insgesamt 8.494 registrierte Drogensüchtige, drei Jahre später bereits 12.765. Gleichzeitig bewegte sich die Zahl der behandelten Alkoholabhängigen in diesem Zeitraum in der Skala um die 200.000 Menschen; die Dunkelziffer lässt sich nur erahnen. Während die letzteren, wenn sie in ihrem Delirium ihren Mitmenschen keine Verletzung zugefügt haben, als simple Patienten betrachtet wurden, sahen sich die Drogenkonsumenten automatisch mit einem Strafprozess konfrontiert. Wenn der Ermittelte aber ordnungsgemäß vorweisen konnte, dass er sich einer Drogentherapie unterzogen hatte, geriet er unverzüglich auf freien Fuß. Dieser Usus wurde bis zur Legislaturperiode der rechtskonservativen Regierung unter Viktor Orbán (1998 bis 2002) praktiziert. Seine Juristen "erlaubten" wiederum ausschließlich den bereits Abhängigen den Freigang aus dem Gefängnis zu einer Drogenbehandlung. Diese jungen und dynamischen Politiker versuchten vielmehr durch die Härte der Paragrafen die Drogenabhängigen von der Beschaffung und Nutzung dieser verbotenen Mittel abzubringen. Dies führte dazu, dass im Jahr 2000 insgesamt 3.445 Drogenkonsumenten (Dealer und Süchtige) hinter Gittern saßen (1990 nur 34), während die Zahl der Heilungssuchenden, wie erwähnt, ebenfalls stieg.
Als im April 2002 die Regierung von Peter Medgyessy an die Macht kam, schickte er im Zeichen seiner sozialliberalen Politik sogleich seine eigenen Drogenspezialisten an die Arbeit. In Ungarn gibt es nämlich von jedem Fachmann gleich zwei Sorten: die Linken und die Rechten, die sich privat oder aus früheren Arbeitsverhältnissen gut kennen, einander aber doch als Erzfeind betrachten. Nun haben die linken Juristen die Machenschaften ihrer rechten Vorgänger unter die Lupe genommen und gleich alles auf den Kopf gestellt. Und zwar gründlich und in mehreren Etappen. Von der Strafbarkeit wurden diejenigen Bürger ausgenommen, die "Drogen in kleineren Menge herstellen, organisieren oder bei Zusammenkünften einander abgeben oder anbieten" oder "Jugendliche unter 21, die im Gebäude von Bildungs- und Erziehungsanstalten und Kulturinstitutionen anderen Personen Drogen anbieten". Das Parlament hat Anfang 2003 dem Gesetzesentwurf zugestimmt. Um die Großartigkeit der neuen Paragrafen zu belegen, wurde bald darauf eine Umfrage unter der Bevölkerung durchgeführt. Dieser gemäß votierten 53 Prozent der Befragten zustimmend, 43,09 Prozent hielten die Modifizierung für falsch und drei Prozent konnten sich keine Meinung dazu bilden. Die Oppositionspartei kommentierte die Umfrage mit der prekären Feststellung: "Von nun an zählen in Ungarn nur Lenin und Osama Bin Laden zu strafrechtlichen Verbrechern."
Der Kampf gegen den Drogenkonsum wurde Bestandteil der "nationalen Strategie" des Landes - eines groß angelegten Aktionsprogramms, das vorerst zur Sicherung des Beitritts in die Europäische Union vorgesehen war.
Die praktische Arbeit leistet das Koordinierungskomitee zur Drogenfrage, welches aus 18 staatlichen Organen besteht. Unter seiner Führung sind acht Fachgremien tätig. Die verantwortungsvolle Arbeit leitet Edina Gábor, eine stellvertretende Staatssekretärin aus dem Ministerium für Jugend und Sport. Die konkreten Ergebnisse ließen auf sich warten und erst im Juni 2003 konnten sich Vereine, Institute und Zivilorganisationen um die Unterstützung von Vorbeugungsprogrammen aus dem zur Verfügung stehenden Mittel von 1,4 Millionen Euro bewerben. Eine Million stammten aus der EU, 400.000 steuerte das ungarische Ministerium bei. Bis heute wurden 91 Prozent der Gelder ausgeschöpft und an 50 Organisationen ausgezahlt. Im Internet sind sechs Seiten zu Drogenproblematik eingerichtet worden, in jeder Komitatshauptstadt entstand ein Drogenzentrum und in Budapest wurde unlängst ein moderner Nadelwechselautomat eingeweiht.
Unter den 25 EU-Ländern befindet sich Ungarn im Bereich der Drogenverbreitung auf dem 18. Platz. Allerdings wurden seit der Öffnung der Grenzen und Milderung der Kontrollen in regelmäßigen Abständen größere Drogenmengen aufgedeckt. Mal 100.000 Ecstasy-Tabletten in Szeged, mal 42 Kilogramm Heroin in Pécs. Das Land avancierte pessimistischen Stimmen zufolge mittlerweile zum Transitland des Drogenhandels zwischen Ost und West und habe damit das ehemalige Jugoslawien leicht überrundet.
In Ungarn geht der Kampf zwischen den Parteien weiter. Das Verfassungsgericht hat Mitte Dezember vergangenen Jahres wieder einige Revidierungen beschlossen und das Kiffen bei Zusammenkünften doch für strafbar erklärt. Knapp anderthalb Jahre verbleiben bis zu den nächsten Wahlen. Im Frühjahr 2006 wird erneut ein Drogenbericht erscheinen, und bis dahin hat das Koordinierungskomitee reichlich zu tun. Als erstes muss ein Leitfaden für die Polizisten zum Aufspüren der immer stärker wachsenden Zahl an Hanffeldern verfasst werden. Ansonsten begeben sich die oppositionellen Rechtskonservativen auf die Suche und es ist zu befürchten, dass sie nicht mit leeren Händen heimkehren.
Die Autorin arbeitet als Journalistin in Berlin.