Deutsche Betriebe, obwohl sie anders als das Militär keinen Treueeid auf Adolf Hitler ablegen mussten, waren in den zwölf Jahren der Nazi-Diktatur nur selten zu Widerstand bereit und fähig. Auch die Firma Hoechst, ab 1925 mit Bayer und BASF zu I.G. Farben und damit zum größten Unternehmen der Privatwirtschaft in Deutschland vereint, passte sich nach 1933 mehr und mehr den Wünschen der nationalsozialistischen Machthaber an. Allerdings betont der Autor Stephan H. Lindner in seiner umfangreichen Arbeit "Hoechst. Ein I.G. Farben Werk im Dritten Reich", dass nicht immer eindeutig unterschieden werden kann, wo Hoechst dem Druck, der von Gauleitung und NSDAP ausging, mit Rücksicht auf Werksinteressen nachgab, und wo man aus innerer Überzeugung der menschenverachtenden Ideologie Tribut zollte.
Mit dem "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" vom 20. Januar 1934 wurde der Hoechster Werksleiter zum "Betriebsführer", die Belegschaft zur "Gefolgschaft" und das Unternehmen zur "Betriebsgemeinschaft" und dazu verpflichtet, unter Zurückstellung eigennütziger Interessen "zum gemeinen Nutzen von Volk und Vaterland zu arbeiten". Lindner weist akribisch nach, wie bald auf allen Ebenen einzelne Betriebsangehörige, die vielfach bereits vor 1933 der SA oder der Partei angehörten, eine "Vergiftung" des viel beschworenen Betriebsfriedens herbeiführten.
Während man nun "alte Kämpfer" und Parteigenossen bevorzugt aufnahm und förderte, mussten Arbeiter wie Angestellte, die als links oder politisch unzuverlässig galten, mit Ausgrenzung rechnen. So wurde bereits zu "Friedenszeiten" entlassen, wer beispielsweise eine der verbotenen sozialdemokratischen Zeitungen gelesen, der KPD drei Mark gespendet oder sich im Familienkreis angeblich despektierlich über Hitler geäußert hatte. "Man musste", wie Lindner zusammenfasst, "sich nichts zuschulden kommen lassen, es genügte, wenn man nicht ein überzeugter Anhänger war oder in diesen Verdacht geriet."
Besonders gründlich waren die "Säuberungen" des Werks von "Elementen", die man der Betriebsgemeinschaft aus "rassischen Gründen" nicht zumuten konnte. Hierbei übertraf die Werksleitung 1938 sogar die vom NS-Regime gestellten Forderungen und wollte nicht nur jüdische und als Juden geltende Mitarbeiter, sondern auch die so genannten "Mischlinge" und mit jüdischen Frauen verheirateten Mitarbeiter entlassen. Die Betriebsleitung setzte zudem alles daran, dass die entlassenen Techniker und Ingenieure, die teilweise konvertiert und hoch dekorierte Teilnehmer des Ersten Weltkriegs waren, im Ausland keine neue Anstellung fanden.
Mit Kriegsausbruch nahm der Einfluss von Partei und Gauleitung verstärkt zu, Hoechst kapitulierte gegenüber der NSDAP nun völlig. Das Werk galt zwar nicht als besonders kriegswichtig; dennoch waren 40 bis 60 Prozent der Produktion kriegsrelevant, und ein Teil der Produkte ging direkt an die Front, wie zum Beispiel Sprengmittel, Sprengstoffe und Nebelsäure. Ab 1942 arbeiteten durchschnittlich rund 3.000 "Fremdarbeiter" bei Hoechst, bis Ende 1944 insgesamt 8.095 Menschen aus den besetzten und mit dem Dritten Reich verbundenen Ländern. Diese Zwangsarbeiter wurden nicht immer von der Reichsregierung zugeteilt, sondern die Werksleitung war auch selbst sehr aktiv und schloss eigenständig Verträge mit ausländischen Firmen. Nachweislich bestanden keinerlei Skrupel, auch Kinder unter zwölf Jahren im Werk zu beschäftigen.
Die Behandlung der Zwangsarbeiter hinsichtlich Unterkunft und Verpflegung war teilweise völlig unzureichend, besonders für die "Ostarbeiter" aus Russland. Sie lebten in umzäunten Baracken, waren durch ein "Ost"-Kennzeichen auf der Kleidung diskriminiert und erhielten so gut wie keinen Lohn. "Die Lage der Russen war offenbar so schlecht, dass andere ausländische und wohl auch deutsche Arbeiter für die Russen sammelten. Das Elend der Ostarbeiter weckte sogar das Mitgefühl der polnischen Zwangsarbeiter, die selbst schon erbärmlich genug lebten." Ob KZ-Häftlinge in den Hoechster Werken beschäftigt wurden, ist nach Lindner nicht eindeutig geklärt, aber eben "auch nicht völlig ausgeschlossen".
Im Gegensatz zu BASF und Bayer war Hoechst am Aufbau der Betriebsstätten und Kohlebergwerke in der Umgebung um Auschwitz nicht beteiligt, wohl aber an medikamentösen Experimenten an Menschen. Die von Hoechst zur Bekämpfung von Fleckfieber entwickelten Präparate 3582 (Acridin) und Rutenol wurden wiederholt an Patienten ohne deren Zustimmung ausprobiert, in Buchenwald, Auschwitz und Gusen/Mauthausen an Häftlingen, die teilweise zuvor künstlich infiziert worden waren. Obwohl die Präparate, ob in Form von Tabletten oder als Granulat, nicht nur in hohem Maße unverträglich waren, sondern so gut wie keinerlei Heilung bewirkten, wurden sie bis Februar 1945 von SS-Ärzten verabreicht. Lindner: "Hier wurde Hoechst offensichtlich aus reinem Ehrgeiz zum Komplizen, weil man die Präparate, an denen man gearbeitet hatte, unbedingt ökonomisch verwerten und in der Konkurrenz mit Elberfeld einen Erfolg davontragen wollte."
Im Sommer 1947 begann der I.G. Farben-Prozess in Nürnberg. Trotz relativ milder Strafen fühlten sich die verurteilten Hoechst-Manager als unschuldige "Opfer". Die Mehrzahl von ihnen wurde allerdings schon bald entlassen. Spätestens im Laufe des Jahres 1951 waren alle wieder in Freiheit, die meisten erneut in hohen Positionen, und selbst für ehemalige SS-Männer, die am Aufbau des Auschwitz-Werkes maßgeblich beteiligt waren, wurden steile Karrieren ermöglicht.
Am 7. Dezember 1951 kam es zur Neu- beziehungsweise Wiedergründung der Farbwerke Hoechst AG. Die "Old Boys" der alten I.G. Farben organisierten ein "gut funktionierendes Netzwerk", das die "Entnazifizierungs-Opfer" fürsorglich betreute. Für eine Entschädigung der während der Nazi-Zeit Verfolgten und Entrechteten sah man dagegen keine Veranlassung. Die Verbrechen der NS-Diktatur sei Sache des Staates, so der neue und alte Vorstandsvorsitzende von Hoechst.
Erst die richterliche Entscheidung im Wollheim-Prozess Anfang der 1950er-Jahre - nach Lindner "Sternstunden der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland" - brachte eine gewisse Wiedergutmachung für ehemalige jüdische Häftlingsarbeiter. Die I.G. Farben und ihre Nachfolgegesellschaften wurden zu einer Zahlung von 30 Millionen D-Mark verurteilt. Das war viel Geld, und doch nur 4.755 D-Mark pro Person.
Stephan H. Lindner
Hoechst. Ein I.G. Farben Werk im Dritten Reich.
Verlag C.H.Beck, München 2005; 460 S., 39,90 Euro