Da Besuchermassen in die nahe der innerdeutschen Grenze gelegene Stadt kommen werden und die junge Bundesrepublik auf kulturellem Gebiet einen Aufbruch benötigt, organisiert der Kasseler Kunstprofessor Arnold Bode (1900 - 1977) quasi als Begleitprogramm eine Ausstellung zur "Europäischen Kunst des 20. Jahrhunderts" im notdürftig wiederhergestellten Fridericianum. Die documenta, das selbsternannte "Museum der 100 Tage", ist geboren - und wird in kurzer Zeit zur weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst.
Bode - bis 1968 viermal künstlerischer Leiter - sieht sich 1955 in historischer Mission: Er will das deutsche Publikum an die Kunst der internationalen Moderne zurückführen, die 1937 in der berüchtigten Münchner Ausstellung "Entartete Kunst" zum letzten Mal gezeigt wurde. Zur Ikone der documenta wird Wilhelm Lembrucks Skulptur "Die Kniende", die von den Nazis als Schandmal bezeichnet wurde. Bode sorgt durch neue Ausstellungskonzepte für Aufsehen, stellt als einer der ersten Kunst im Freien aus. Neben Bode prägt der spätere Direktor der Berliner Nationalgalerie Werner Haftmann (1912 - 1999) die documenta. Für Bode und Haftmann sind zweierlei Dinge grundlegend: Die unterschiedlichen Künste - Malerei, Grafik, Film, Musik, Skulptur - gehören zusammen und bilden als Einheit "den Spähtrupp einer Selbsterkenntnis des Menschen". Für Haftmann dient die "moderne Kunst der Begegnung des einzelnen Menschen mit dem, was er selbst ist in seiner Gegenwart." Zur Premiere attestierte die internationale Presse den Kuratoren, "nach der Barbarei des Nationalsozialismus", den "geistigen Nachholbedarf" der jungen Demokratie gestillt zu haben.
Trotz ihres avantgardistischen Kunstverständnisses erwies sich die documenta stets als Zuschauermagnet: Kamen 130.000 Besucher zur ersten, waren es 651.000 bei der elften documenta im Jahre 2002. Grund genug also, nach einem halben Jahrhundert Rückschau zu halten, wie es die Kasseler Ausstellung "50 Jahre/Years documenta 1955 - 2005" tut.
Die von einem Team unter der Leitung des Bremer Kunstwissenschaftlers Michael Glasmeier konzipierte zweiteilige Ausstellung verlangt in bester documenta-Tradition vom Besucher eine intensive Auseinandersetzung und ausreichend Zeit. Während die erste Etage unter dem Titel "archive in motion" eine historische Dokumentation der bisher elf Ausstellungen bietet, findet sich auf der zweiten eine künstlerische Retrospektive mit dem Leitmotiv "Diskrete Energien".
Da jede documenta ein streitbarer Solitär ist, wollten die Kuratoren gerade nicht rein kunsthistorisch vorgehen. Wer ein "Who is Who" der Kunst des 20. Jahrhunderts im Stile der Berliner MOMA-Ausstellung erwartet, wird enttäuscht. "Genau das wollten wir nicht machen", sagt Glasmeier-Mitarbeiter Christopf Lange. Stattdessen werden in elf "archive in motion"-Kammern auf je sieben Tafeln Geschichte, Konzeption und Höhepunkte der jeweiligen documenta wiedergegeben, Fernsehdokumentationen, Plakate, Briefwechsel präsentiert. Die Exponate stammen alle aus dem documenta-Archiv, in dem sich 250.000 Kunstmaterialien finden. Die Ausstellung zapft diesen Wissensspeicher an. Dabei helfen junge Künstler, die ein Motiv der jeweiligen documenta zu einem neuen Kunstwerk verarbeiten. Kunst soll Kunst aus der Vergangenheit in die Gegenwart holen.
Auch in den "Diskreten Energien" setzen sich die Kasseler bewusst vom Mainstream ab. Zwar steht Lehmbrucks "Kniende" als Reminiszenz raumgreifend im Zentrum der Ausstellung. Ansonsten dominieren aber weniger bekannte Kunstwerke, die auf ihre Weise - mal unangepasst, mal versteckt innovativ - den künstlerischen Zeitgeist beeinflusst haben.
Den Ruf der documenta prägten dennoch Stars und ihre Skandale. So präsentierte der Verpackungskünstler Christo 1968 eine seiner ersten Arbeiten in Kassel: einen 80 Meter hohen Kunststoffschlauch mit dem Titel "5.600 m³ Package". Er sollte sich im Auepark erheben - brach aber nach nur einer halben Stunde zusammen. Statt zum Symbol der documenta 4 zu werden, wurde er als "Aue-Spargel" oder "documenta-Wurst" bespöttelt.
Auch der Geist der 68er schwappte auf Kassel über - etwa als der Happeningkünstler Wolf Vostell eine Pressekonferenz sprengte und Kleingeld als "Pension für Professor Bode" auf dem Konferenztisch warf. Der documenta-Gründer reagierte konsterniert und zog sich zurück. Ihm folgte der Schweizer Starkurator Harald Szeemann (1933 - 2005), der 1972 die documenta 5 leitete und erstmals ein festes Programm mit dem Titel "Individuelle Mythologien" vorgab, womit sich viele Künstler ihres thematischen Entfaltungsspielraums beraubt sahen.
Mit kaum einem zweiten Namen ist die documenta aber so eng verbunden wie mit dem von Joseph Beuys. Er war von der dritten bis zur neunten Ausstellung präsent. Stadt- und Kunstgeschichte schrieb Beuys 1982 mit dem Projekt "7.000 Eichen". Diese "soziale Plastik" setzte er gegen massiven Widerstand durch - und pflanzte 1987 den ersten Baum. Der Effekt: Die Begrünung der Stadt - heute aus Kassel nicht mehr wegzudenken.
Unter der Regie der Französin Catherine David (1997) und dem Nigerianer Okwui Enwezor (2002) wandte sich die documenta der Globalisierungs- und Postkolonialismusdebatte zu. So fragte der erste nichteuropäische Leiter nach der Bedeutung der Kultur an der Schnittstelle zu globalen Wissenssystemen. Internet und Multimedia-Kunst spielten ebenso eine Rolle wie die Deutung der Lebensbedingungen in der Dritten Welt.
Es bleibt zu hoffen, dass die documenta sich auch weiterhin treu bleibt, mit immer neuen Zugängen, Gegenwart zu deuten. Die Rückschau nötigt nicht nur Respekt für das Geleistete ab, sondern macht auch Appetit auf die nächste documenta 2007.
50 Jahre/Years documenta 1955 - 2005, Kunsthalle Fridericianum Kassel, 1. September- 20. November 2005.
Im Internet:
www.fridericianum-kassel.de