Eben noch herrschte im getäfelten Raum mit hoher Stuckdecke eine heitere Stimmung unter den Gästen. Jetzt hören die Menschen gebannt und schweigend zu. Rund 50 Zuhörer sind in das Münchner Erzählcafé im Stadtteil Schwabing gekommen, um die Geschichte der 75-jährigen Sibylle Mays zu hören. In späten Lebensjahren hatte sie begonnen, Nachforschungen über das Leben ihrer jüdischen Vorfahren anzustellen. Nun sitzt sie mit Mikro vor dem Publikum, das in den folgenden zwei Stunden erfährt, wie die biografische Spurensuche Sibylle May in die USA führte, wohin ihr Urgroßvater Mitte des 19. Jahrhunderts emigrierte. Immer wieder stellt die alte Dame in ihrer Erzählung die Verbindung zu ihrer Jugend in Bayern her, liest aus alten Briefen an die Freundin vor, lässt frühe Kindheitserinnerungen Revue passieren, und das Publikum reist in Gedanken mit. Viele sind in Frau Mays Alter, manche jünger. Einige von ihnen nicken nachdenklich, als sie mit Rückblick auf ihre frühen Kriegserlebnisse sagt: "Kinder sprechen nicht von allein über merkwürdige Dinge, die sie erlebt haben." Vielen geht es so wie Sibylle May, die Jahrzehnte lang ihre Erlebnisse nur im engsten Familienkreis erzählte und manches ganz verschwieg. Im Erzählcafé jedoch bricht sie dieses Schweigen und findet in den Gästen dankbare Zuhörer. Sie sind deshalb dankbar, weil eine fremde Frau die Worte für eine Geschichte hat, in der sich jeder von ihnen ein Stück wieder findet. Man kann auch sagen, dass Frau May ihre Biografie stellvertretend für alle Schweigenden, Schüchternen oder Verstorbenen zur Verfügung stellt.
Die Münchnerinnen Jutta Tzanetis und Anna Minde sind begeisterte Geschichten-Sammlerinnen und kommen zu jedem Erzählcafé-Termin in die Seidlvilla, also acht Mal im Jahr. Damit gehören die beiden Frauen zum Stammpublikum, das nicht nur aus der näheren Umgebung kommt. "Man hört hier Dinge, die man nicht aus Radio oder Fernsehen erfährt", erklären sie ihre Lust auf Lebensgeschichten. Ich finde, in Zeiten der Automatisierung sollte das Reden von Angesicht zu Angesicht wieder mehr Aufmerksamkeit bekommen", sagt Frau Tzanetis. Ihre Tischnachbarin ergänzt: "Es ist auch schön, ein wenig Gesellschaft um sich zu haben."
Jeder Mensch hat eine Geschichte, die er erzählen könnte. Sie würde auf einen immer größeren Kreis interessierter Zuhörer treffen, weil wir uns mit dem echten Leben jenseits von Sensationsgier am besten identifizieren. Ein Beweis dafür ist die wachsende Zahl der Erzählcafés, die in München, Frankfurt, Dortmund, Berlin, Göttingen oder Hamburg Menschen einladen, mit anderen zusammen zu kommen. Woher die Idee dazu stammt, weiß niemand so genau. Der Standort Berlin gehört zu den ältesten Einrichtungen. Der Ursprung ist wohl in Gesprächsrunden zu suchen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ins Leben gerufen wurden, als der Bedarf nach Austausch in der Bevölkerung besonders groß war. Ging es damals vor allem um Zeitzeugenarbeit, stehen heute die Kommunikation zwischen den Generationen und das Miteinander im Vordergrund. Meist soll das Geschehene einen regionalen Bezug aufweisen, der Referent aus der Umgebung stammen. In manchen Erzählcafés werden Vorträge gehalten, andere praktizieren moderierte Gesprächsrunden. Die Referenten werden meist von den Veranstaltern, die oft in der Erwachsenenbildung arbeiten oder sich einfach sozial engagieren wollen, ausgewählt.
Die Erzählcafés wollen für alle Altersschichten interessant sein. Politik oder Gesellschaftsleben sind deshalb mittlerweile fester Programmbestandteil. Manche historische Themen kehren jedoch immer wieder: "Mit Veranstaltungen, die sich um die Zeit des Nationalsozialismus drehen, sprechen wir vor allem Jüngere an", sagt Karin Wimmer-Billeter vom Münchner Bildungswerk, das als Kooperationspartner auftritt. Aber auch Mitmenschen anderer kultureller Herkunft oder mit ausgefallenem Beruf locken das Publikum. In Hamburg-Hamm entschied man sich dagegen für ein reines Geschichtscafé. Zwar sei das Durchschnittsalter der Gäste etwa 75 Jahre, sagt Michael Braun vom dortigen Stadtteilarchiv: "Vom Ziel her aber ist es keine Seniorenarbeit, sondern eine Generationen übergreifende Geschichts-Werkstatt." In Göttingen ist das Konzept der "oral history", der mündlichen Überlieferung, nach wie vor Baustein des eigenen Zeitzeugenprojekts. Daneben sollen spezielle Erzählcafés für Frauen, Homosexuelle oder Jugendliche einen Bezug zu allen Milieus herstellen.
In der Münchner Jugendstilvilla, idyllisch am Rande des Englischen Gartens gelegen, herrscht in der Pause eifriges Fachsimpeln. Jeder der Anwesenden hat sich schon einmal als Hobby-Biograf versucht, so manchem ist es ein wenig peinlich, von den Schuhkartons voller Aufzeichnungen zu erzählen, die niemals hergezeigt wurden. Auch Sibylle May sagt, sie habe sich anfangs nicht vorstellen können, zwei Stunden lang vor Publikum über sich zu sprechen: "Aber die Zeit verging ja wie im Flug." Eine Dame mittleren Alters wendet sich an die Referentin. Es geht um ihre Großeltern, eine Jahrzehnte zurückliegende Adoption, eine komplizierte Geschichte. Frau May hört zu und nickt bedächtig: "Das ist ja eine ganz verzwickte Angelegenheit, ohne den Geburtsnamen ihrer Großmutter halte ich das Ganze für sehr schwierig." Sie rät, Forschungen nicht nur auf ein bestimmtes Familienmitglied zu fokussieren und gibt den Tipp, nach Heiratsurkunden zu suchen. In der zweiten Runde an diesem Nachmittag fordert sie alle Anwesenden auf, ihre Erinnerungen fest zu halten: "Schreiben Sie es auf oder nehmen Sie sich ein Tonband zur Hand, es ist die Sache wert. Tun Sie es für ihre Kinder und Enkel." Die Gäste an den Tischen sind für einen Moment still. "Aber wir haben doch gar nicht so viel erlebt wie Sie", kommt der Einwurf aus dem Publikum. Frau May schmunzelt.