03.12.2002
Es gilt das gesprochene Wort Rede des Präsidenten des
Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, zur Eröffnung der
Fotoausstellung "Vom Alsenviertel zum Paul-Löbe-Haus"
03.12.2002. 11.00 Uhr in Berlin Anrede, geschichtsträchtige
Orte gibt es in Berlin viele. Aber gerade hier, im Spreebogen,
bündelt sich Deutsche und Berliner Geschichte. Kaiserzeit,
Weimarer Republik, NS-Zeit, geteilte Stadt, Vereini-gung ? jede
Zeit hat diesen zentralen städtischen Raum auf eigene Weise
mitgenommen. Die Berliner Geschichtswerkstatt hat
dan-kenswerterweise eine Ausstellung konzipiert, die uns in einem
fotografischen Spaziergang durch die Jahrzehnte die Geschichte
dieses Ortes vergegenwärtigt. Die spannende Ausstellung steht
unter dem Titel: ?Vom Alsen-viertel zum Paul-Löbe-Haus?.
Korrekterweise muss man sagen, dass es auch eine Geschichte vor der
Zeit des Alsenviertels gibt. Die ist allerdings im wahrsten Sinne
des Wortes ziemlich trocken, denn ursprünglich war hier
Ödnis und Sand. So viel Sand, dass die Berliner von ihrer
?Wüste Sahara? sprachen. Sogar Mutterbo-den musste
herangeschafft werden, damit überhaupt Bäume wachsen
konnten. An solch trostlosen Orten pflegt man Soldaten zu schinden,
so auch hier. Aus dem sandigen Exerzierplatz vor den Toren der
Stadt wurde dann im 19. Jahrhunderten eines der schönsten
bürgerlichen Viertel Berlins. Eine herrschaftliche Wohngegend,
ein bevorzugter Platz für Botschaften und
Reprä-sentationsbauten ? später auch für den
Reichstag. Dieses Alsenviertel ist untergegangen ? und der
Untergang be-gann schon vor dem zweiten Weltkrieg. Es waren die
Nationalso-zialisten, die für ihre
größenwahnsinnige Idee einer ?Germania Welthauptstadt?
ganze Straßenzüge abtragen ließen, nachdem die
Besitzer enteignet wurden. Deutlicher hätte sich der
totalitäre Herrschaftsanspruch des NS-Regimes kaum zeigen
können. Das Zerstörungswerk der Nationalsozialisten wurde
schließlich vom Luftkrieg vervollständigt: Vom
Größenwahn in die totale Nie-derlage. Total war auch der
Bedeutungsverlust dieses Stadtteils. Gerade zwei Gebäude
überstanden den Krieg: Das Schweizer Konsulat (heute der alte
Teil der Schweizer Botschaft) und der ausgebrannte Reichstag. Mit
dem Bau der Mauer wurde die Trümmerlandschaft des ehemaligen
Alsenviertels dann zer-schnitten und für viele Jahre zum
?toten Winkel? auf beiden Sei-ten der Mauer. In den Zeiten der
Teilung war der Spreebogen kein Ort. Ein Nirgends. Eine Brache, wo
sich Ost und West den Rük-ken zukehrten. Der 20. Juni 1991,
der den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin mit sich
brachte, rückte den Spreebogen wieder in ei-ne privilegierte
Lage zwischen historischem Zentrum und Tier-garten. Der Umzug
eröffnete die Chance, das Reichstagsgebäude als
Plenarsaal zu nutzen und im umliegenden Areal
Abgeordne-tenbüros und Regierungsbauten zu errichten. Es war
die Chance, dem von der Geschichte malträtierten Gelände
wieder eine Funk-tion zu geben und es in die Stadt
zurückzuholen. Und es war die Chance, unseren wichtigsten
demokratischen Einrichtungen, den Verfassungsorganen Bundestag und
Bundesregierung einen Ort im Zentrum Berlins zu geben. Der
Neuanfang sollte aber ausdrücklich keine Wiederbelebung sein.
Deshalb heißt das Gebäude, in dem ich Sie heute
begrüßen kann, konsequenterweise auch nicht ? wie ihn
die Bauleute nannten ? Alsenblock, sondern Paul-Löbe-Haus.
Eines der vielen Zeichen, an dem deutlich wird, dass wir im
Parlaments- und Re-gierungsviertel nicht an die
großbürgerliche Tradition des Alsen-viertels
anknüpfen, sondern an demokratische Traditionen der er-sten
deutschen Republik. Noch ist die Gestaltung des Viertels nicht
abgeschlossen. Man mag das auch symbolisch sehen: Die Deutsche
Einheit ist ja eben-falls noch Baustelle. Immerhin: Der Bauzaun,
der den Platz der Republik sieben Jahre absperrte, ist seit kurzem
weg. Ob nun Fußball vor dem Reichstagsgebäude wieder
erlaubt sei, wurde ich gefragt. Warum nicht? Die Demokratie
stört das nicht (allerdings ? wie ich höre ? das
Grünflächenamt des Bezirks). Auch wenn das Parlaments-
und Regierungsviertel noch immer im Werden ist, kristallisiert sich
eines schon klar heraus: Das Konzept geht auf. Wir können
feststellen, dass es gelungen ist, dem demokratischen Bewusstsein
Deutschlands auch architekto-nisch Ausdruck zu geben. Die
Bürgerinnen und Bürger nehmen dieses Viertel an.
Längst ist das Parlaments- und Regierungsviertel zu einem
Besucher-Magnet in der Hauptstadt geworden. Das
Reichstagsgebäude ist das meistbesuchte Parlament der Welt.
?Vom Alsenviertel zum Paul-Löbe-Haus? ? im Titel der
Ausstel-lung klingt nur an, welch langer, verschlungener Weg
dazwischen liegt: Der Weg vom großbürgerlichen Wohn- und
Repräsentati-onsviertel zum Forum der Deutschen Demokratie.
Ich freue mich, dass wir mit Herr Jörn Jensen einen
exzellenten Kenner der Ge-schichte bei uns haben, der uns diesen
Weg nachzeichnet und die Ausstellung erläutern wird. Als
ehemaliger Bezirksbürgermeister von Tiergarten kennen Sie,
sehr geehrter Herr Jensen, den Spree-bogen und seine Geschichte
natürlich bestens. Deshalb sind wir gespannt auf Ihre
Ausführungen. Herzlich willkommen.
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages,
Wolfgang Thierse, zur Eröffnung der Fotoausstellung
"Vom Alsenviertel zum Paul-Löbe-Haus"
03.12.2002. 11.00 Uhr in Berlin
Es gilt das gesprochene Wort
Anrede,
geschichtsträchtige Orte gibt es in Berlin viele. Aber gerade hier, im Spreebogen, bündelt sich Deutsche und Berliner Geschichte. Kaiserzeit, Weimarer Republik, NS-Zeit, geteilte Stadt, Vereinigung ? jede Zeit hat diesen zentralen städtischen Raum auf eigene Weise mitgenommen. Die Berliner Geschichtswerkstatt hat dankenswerterweise eine Ausstellung konzipiert, die uns in einem fotografischen Spaziergang durch die Jahrzehnte die Geschichte dieses Ortes vergegenwärtigt.
Die spannende Ausstellung steht unter dem Titel: "Vom Alsen-viertel zum Paul-Löbe-Haus". Korrekterweise muss man sagen, dass es auch eine Geschichte vor der Zeit des Alsenviertels gibt. Die ist allerdings im wahrsten Sinne des Wortes ziemlich trocken, denn ursprünglich war hier Ödnis und Sand. So viel Sand, dass die Berliner von ihrer "Wüste Sahara" sprachen. Sogar Mutterboden musste herangeschafft werden, damit überhaupt Bäume wachsen konnten. An solch trostlosen Orten pflegt man Soldaten zu schinden, so auch hier. Aus dem sandigen Exerzierplatz vor den Toren der Stadt wurde dann im 19. Jahrhunderten eines der schönsten bürgerlichen Viertel Berlins. Eine herrschaftliche Wohngegend, ein bevorzugter Platz für Botschaften und Repräsentationsbauten ? später auch für den Reichstag.
Dieses Alsenviertel ist untergegangen ? und der Untergang be-gann schon vor dem zweiten Weltkrieg. Es waren die Nationalsozialisten, die für ihre größenwahnsinnige Idee einer "Germania Welthauptstadt" ganze Straßenzüge abtragen ließen, nachdem die Besitzer enteignet wurden. Deutlicher hätte sich der totalitäre Herrschaftsanspruch des NS-Regimes kaum zeigen können. Das Zerstörungswerk der Nationalsozialisten wurde schließlich vom Luftkrieg vervollständigt: Vom Größenwahn in die totale Niederlage. Total war auch der Bedeutungsverlust dieses Stadtteils. Gerade zwei Gebäude überstanden den Krieg: Das Schweizer Konsulat (heute der alte Teil der Schweizer Botschaft) und der ausgebrannte Reichstag. Mit dem Bau der Mauer wurde die Trümmerlandschaft des ehemaligen Alsenviertels dann zerschnitten und für viele Jahre zum "toten Winkel" auf beiden Seiten der Mauer. In den Zeiten der Teilung war der Spreebogen kein Ort. Ein Nirgends. Eine Brache, wo sich Ost und West den Rük-ken zukehrten.
Der 20. Juni 1991, der den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin mit sich brachte, rückte den Spreebogen wieder in eine privilegierte Lage zwischen historischem Zentrum und Tiergarten. Der Umzug eröffnete die Chance, das Reichstagsgebäude als Plenarsaal zu nutzen und im umliegenden Areal Abgeordnetenbüros und Regierungsbauten zu errichten. Es war die Chance, dem von der Geschichte malträtierten Gelände wieder eine Funktion zu geben und es in die Stadt zurückzuholen. Und es war die Chance, unseren wichtigsten demokratischen Einrichtungen, den Verfassungsorganen Bundestag und Bundesregierung einen Ort im Zentrum Berlins zu geben.
Der Neuanfang sollte aber ausdrücklich keine Wiederbelebung sein. Deshalb heißt das Gebäude, in dem ich Sie heute begrüßen kann, konsequenterweise auch nicht ? wie ihn die Bauleute nannten ? Alsenblock, sondern Paul-Löbe-Haus. Eines der vielen Zeichen, an dem deutlich wird, dass wir im Parlaments- und Regierungsviertel nicht an die großbürgerliche Tradition des Alsenviertels anknüpfen, sondern an demokratische Traditionen der ersten deutschen Republik.
Noch ist die Gestaltung des Viertels nicht abgeschlossen. Man mag das auch symbolisch sehen: Die Deutsche Einheit ist ja ebenfalls noch Baustelle. Immerhin: Der Bauzaun, der den Platz der Republik sieben Jahre absperrte, ist seit kurzem weg. Ob nun Fußball vor dem Reichstagsgebäude wieder erlaubt sei, wurde ich gefragt. Warum nicht? Die Demokratie stört das nicht (allerdings ? wie ich höre ? das Grünflächenamt des Bezirks).
Auch wenn das Parlaments- und Regierungsviertel noch immer im Werden ist, kristallisiert sich eines schon klar heraus: Das Konzept geht auf. Wir können feststellen, dass es gelungen ist, dem demokratischen Bewusstsein Deutschlands auch architektonisch Ausdruck zu geben.
Die Bürgerinnen und Bürger nehmen dieses Viertel an. Längst ist das Parlaments- und Regierungsviertel zu einem Besucher-Magnet in der Hauptstadt geworden. Das Reichstagsgebäude ist das meistbesuchte Parlament der Welt.
"Vom Alsenviertel zum Paul-Löbe-Haus" ? im Titel der Ausstellung klingt nur an, welch langer, verschlungener Weg dazwischen liegt: Der Weg vom großbürgerlichen Wohn- und Repräsentationsviertel zum Forum der Deutschen Demokratie. Ich freue mich, dass wir mit Herr Jörn Jensen einen exzellenten Kenner der Geschichte bei uns haben, der uns diesen Weg nachzeichnet und die Ausstellung erläutern wird. Als ehemaliger Bezirksbürgermeister von Tiergarten kennen Sie, sehr geehrter Herr Jensen, den Spreebogen und seine Geschichte natürlich bestens. Deshalb sind wir gespannt auf Ihre Ausführungen. Herzlich willkommen.