Die geplante Gesundheitsreform wird zum Lackmustest für die Reformfähigkeit der Großen Koalition. Dass dies auch den Spitzen des Regierungsbündnisses bewusst ist, zeigte nicht zuletzt der Beschluss, die Beratungszeit zu verlängern: Um ein Vierteljahr soll sich das Inkrafttreten nun verschieben. Was können die Menschen von dem Reformwerk erwarten? Sind die Pläne nur kleinmütiges Stückwerk oder bringen sie den entscheidenden Durchbruch im Gesundheitswesen? Darüber führte BLICKPUNKT BUNDESTAG ein Streitgespräch mit den Gesundheitsexperten von SPD und der Fraktion Die Linke., Peter Friedrich und Frank Spieth.
Blickpunkt Bundestag: Herr Friedrich, bislang gleicht die Gesundheitsreform Schuberts „Unvollendeter“: Vieles ist noch offen und ungeklärt. Wird der Bundestag, der bald über die Reformen zu beraten hat, überhaupt vernünftig entscheiden können?
Peter Friedrich: Ich denke schon. Die momentanen Emotionen hängen mit der hohen Erwartung zusammen, dass dies eine ganz große Reform wird. Gerade bei uns jüngeren Abgeordneten hat es immer eine Portion Skepsis darüber gegeben, ob wir wirklich mit einer einzigen Reform die Probleme der nächsten zehn, 15 Jahre lösen können. Schließlich geht es um entscheidende Verteilungsprobleme in unserer Gesellschaft, die naturgemäß umstritten sind. Dennoch: Die Regierung hat ein Eckpunktepapier vorgelegt, das unterschiedliche Detaillierungsgrade hat und das nun durchaus vernünftig im Parlament beraten werden kann und muss. Durch die Verschiebung des Inkrafttretens der Reform um drei Monate haben wir erfreulicherweise ja auch etwas mehr Zeit dafür. Dabei ist klar, dass der Bundestag auch aufnehmen muss, was es an berechtigter Kritik in der Öffentlichkeit gibt.
Blickpunkt: Wie ist das aus Ihrer Sicht, Herr Spieth? Stürzt die Koalition uns in ein gesundheitspolitisches Abenteuer?
Frank Spieth: Die sogenannten „Eckpunkte“ und der bisherige Arbeitsentwurf der Regierung mit seinen über 1.000 Seiten lassen Böses erwarten. Ich vermute, dass am Ende statt eines verbesserten Wettbewerbs im Gesundheitswesen genau das Gegenteil erreicht wird: massive Beitragserhöhungen für die Versicherten, Leistungsausgrenzungen, keine Einbeziehung der privat Versicherten. Deshalb halte ich das Ganze für einen Rohrkrepierer.
Blickpunkt: Auch die Bürger scheinen skeptisch zu sein, sie möchten laut Umfragen die Reform am liebsten begraben. Denn sie befürchten eher neue Lasten statt Entlastungen, zumal die Koalition ja schon eine Erhöhung der Kassenbeiträge um 0,5 Prozent angekündigt hat.
Friedrich: Die Beitragserhöhung ist eine der ganz bitteren Pillen bei dieser Reform, die gerade meine Partei, die stärker auf eine Steuerfinanzierung gesetzt hat, schlucken musste. Dagegen steht, dass dies die erste Gesundheitsreform seit 30 Jahren ist, bei der es nicht zu Leistungsausgrenzungen kommt. Im Gegenteil: In den Leistungskatalog sind wichtige Bereiche hinzugekommen wie Prävention, Schmerzbehandlung oder Mutter-Kind-Kuren. Das ist für viele Menschen von großer Bedeutung. Insgesamt kann man sagen, dass die geplante Reform durchaus ein paar grundsätzliche Fehler – manche leider auch nicht – abstellt und deshalb ein Fort- und kein Rückschritt ist.
Blickpunkt: Das Kernstück ist die Einrichtung eines Gesundheitsfonds. Doch nicht nur dessen Starttermin verschiebt sich kontinuierlich, offen sind immer auch noch wichtige Finanzierungsfragen und der Risikostrukturausgleich unter den Kassen. Hat die Koalition ihre Hausaufgaben nicht gemacht?
Friedrich: Nun mal langsam, wir Parlamentarier beginnen ja gerade erst mit der Arbeit, Noten sollten erst zum Abschluss verteilt werden. Dass noch nicht alles klar ist, liegt im Übrigen auch an der Komplexität einiger Probleme: So kann man nicht von heute auf morgen die Kassen entschulden. Das geht einfach nicht, denn einige haben hohe dreistellige Schulden. Wir brauchen hier einen Übergang. Gerade weil wir wissen, wie wichtig die Versorgungsfrage für die Menschen ist, dürfen wir nicht mit heißer Nadel stricken, sondern müssen Schritt für Schritt vorgehen und Qualitätsarbeit abliefern. Die Erfahrung mit Revolutionen auf dem Gesetzesblatt war in der letzten Legislaturperiode ja nicht gerade positiv.
Spieth: Auch das wird Ihnen nicht helfen. Denn diese Reform löst keine Probleme, sondern schafft neue, die vorher gar nicht existiert haben. Nehmen wir den Gesundheitsfonds und die darin eingeführte „Kopfprämie“: Die müssen vor allem die Versorgerkassen, die die großen Risiken tragen – also Barmer, Kaufmännische, AOK –, von ihren Versicherten verlangen. Die Folge wird ein wahnsinniger Verdrängungswettbewerb sein und ein Zusammenstreichen bisheriger freiwilliger Leistungen. Sonst haben diese Kassen keine Chancen, ohne Zusatzprämien hinzukommen. Daran wird auch der viel beschworene Risikostrukturausgleich, der übrigens bisher nur angedacht und überhaupt nicht klar ist, nichts lösen.
Friedrich: Die Kopfprämie ist nicht unser Wunsch und unser Traum. Sie ist das Modell der Union, das wir letztlich deshalb akzeptiert haben, weil wir unbedingt einen vernünftigen Risikostrukturausgleich haben wollen, der tatsächlich die Krankheitsrisiken zwischen den Kassen ausgleicht. Die Kopfprämie haben wir immerhin in Umfang und Höhe so begrenzen können, dass sie nicht die extrem unsoziale Wirkung entfalten kann, die wir immer an diesem Modell kritisiert haben.
Spieth: Sie vergessen zu erwähnen, dass die Kopfprämie allein zulasten der Versicherten geht, die Arbeitgeber brauchen sich daran nicht paritätisch zu beteiligen. Der Austritt aus der Parität nimmt leider immer mehr zu. Mittlerweile tragen die Arbeitnehmer fast 65 Prozent der Kosten in der gesetzlichen Krankenversicherung, der Arbeitgeber finanziert faktisch nur noch 35 Prozent. Und diese Entwicklung geht weiter, zumal diese Koalition den Krankenkassen immer neue finanzielle Lasten aufbürdet.
Blickpunkt: Ein ganz großer ungelöster Brocken bleibt die kostenfreie Mitversicherung aller Kinder, die aus Steuern finanziert werden soll, was rund 16 Milliarden Euro kostet.
Friedrich: Ja, das ist problematisch. Die SPD hätte sich auch eine schnellere und stärkere Steuerfinanzierung gewünscht, sie war aber wegen des Widerstandes einiger Ministerpräsidenten der Union nicht durchsetzbar. Hier müssen die Koalitionspartner sicherlich noch einmal miteinander reden. Es darf nicht bei den 1,5 beziehungsweise im Jahr darauf drei Milliarden aus dem allgemeinen Haushalt stehen bleiben, wir brauchen eine stärkere Steuerfinanzierung. Zumal das Grundproblem, dass wir immer weniger sozialversicherungspflichtige Beschäftigte haben, in einer globalisierten Wirtschaft zunehmen wird. Die Steuerfinanzierung ist auch die gerechtere Form der Finanzierung als Beiträge. Deshalb müssen wir hier umsteuern, da ist uns der Einstieg zu klein. Blickpunkt: Sollen auch bislang privat von den Eltern versicherte Kinder künftig steuerfinanziert werden?
Spieth: Ich bin dagegen, dass der steuerzahlende Versicherte den privilegierten Privatversicherten auch noch die Kinderkrankenversicherung bezahlt. Ich bin erst recht dagegen, dass die steuerzahlenden Versicherten die Arbeitgeber mit sieben Milliarden subventionieren, da diese von der Mitfinanzierung der Kinderkrankenversicherung um diesen Betrag entlastet werden. Netto zahlen die steuerzahlenden Versicherten dann also 14 Milliarden Euro für die Kinderkrankenversicherung in der gesetzlichen und zwei Milliarden Euro für die private Krankenversicherung – und das ist ungerecht.
Friedrich: Es gehört offenbar zum festen Weltbild der Linkspartei, dass bei uns Unternehmer überhaupt keine und nur der ärmste Teil der Bevölkerung Steuern zahlen. Das stimmt ja nicht. Faktisch zahlen die 25 Prozent Bestverdiener 75 Prozent des Steueraufkommens. Das wissen auch Sie, Herr Spieth. Deshalb bleibt die Steuerfinanzierung gerechter, weil das Aufkommen progressiv eingenommen wird und weil sie den Faktor Arbeit entlastet.
Spieth:Aber ihr von der SPD wolltet doch mit der Bürgerversicherung genau den anderen Weg gehen, nicht über Steuern, sondern über Beiträge auf alle Einkommensarten!
Blickpunkt: Hat die Reform eine Gerechtigkeitsschieflage? Kommen nicht Privatkassen, Pharmaindustrie und Apotheken vergleichsweise ungeschoren aus der Reform heraus?
Friedrich: Ich sehe nicht, dass einige ungeschoren davonkommen. Ganz im Gegenteil. Die Privatkassen müssen sich untereinander einem neuen Wettbewerb stellen, das verändert auch ihren bisherigen Wettbewerbsvorteil gegenüber den gesetzlichen Kassen. Und die können künftig direkt mit der Pharmaindustrie Vertragsverhandlungen über Kosten und Nutzen eines Präparats führen. Das wird sicherlich zu besseren Leistungen und Versicherungsbedingungen führen. Richtig ist, dass wir die Privatkassen nicht in den Fonds hineinbekommen haben. Das bedauern wir.
Blickpunkt: Herr Spieth, Ihre Partei wärmt sich an den Schwierigkeiten der Koalition die Hände. Aber was ist, kurz gesagt, eigentlich Ihr Rezept für eine solide Gesundheitspolitik?
Spieth: Wir haben eine ganz klare Linie: Wir wollen, dass alle in Deutschland lebenden Menschen gesetzlich krankenversichert sind, dass sie einen Beitrag über alle Einkommensarten hinweg – also auch Vermögenseinkommen – in prozentualer Größe ohne Beitragsbemessungsgrenze zahlen. Damit könnten wir unter zehn Prozent kommen!
Das Gespräch führte
Sönke Petersen.
Fotos: Photothek
Erschienen am 22. September 2006
Peter Friedrich (SPD),
Jahrgang 1972, ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages.
Der Diplom-Verwaltungswissenschaftler ist ordentliches Mitglied im
Gesundheitsausschuss und Sprecher der Gruppe junger Abgeordneter
„Youngsters“ der SPD-Fraktion.
E-Mail:
peter.friedrich@bundestag.de
Webseite:
www.peter-friedrich.info
Frank Spieth (Die Linke.),
Jahrgang 1947, ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages.
Der gelernte Technische Zeichner und Gewerkschaftssekretär ist
gesundheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion und deren Obmann im
Gesundheitsausschuss.
E-Mail:
frank.spieth@bundestag.de
Webseite:
www.frank-spieth.de
Redaktion: blickpunkt@media-consulta.com
Die TV-Aufzeichnung dieses Streitgesprächs kann im Web-TV des Bundestages angesehen werden: www.bundestag.de/live/tv