Die Entwicklung kommt schleichend. Zuerst sind es nur „die anderen”, denen es nicht mehr so gut geht, die in Armut fallen. Doch längst haben nicht nur Arbeitslose, Alleinerziehende, Kinder und Geringverdiener Mühe, am normalen Leben teilzunehmen. Auch Arbeitnehmer aus der Mittelschicht fürchten zunehmend den sozialen Abstieg. Was läuft schief in Deutschland? Im Streitpunkt von BLICKPUNKT BUNDESTAG diskutieren darüber Inge Zeller, gelernte Diplombetriebswirtin und seit drei Jahren arbeitslos, und Carsten Schneider, haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
Der jüngste Armutsbericht der Bundesregierung spricht eine
deutliche Sprache: Jeder vierte Deutsche ist arm oder von Armut
bedroht. Die Lücke zwischen Arm und Reich wird immer
größer — die Mittelschicht kleiner. Alarmierende
Zahlen, die die politischen Parteien bis hin zum
Bundespräsidenten in Besorgnis versetzen. Denn das Gefühl
vieler Bürger, nicht mehr anerkannter Teilhaber am
Gemeinwesen, nur noch gering geschätzter Transferbezieher zu
sein, könnte den Kitt unserer Gesellschaft, das Gefühl
sozialer Gerechtigkeit, brüchig machen. Schon jetzt befindet
sich die Zustimmung zu unserem Parteiensystem im Sinkflug, ist das
Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft auf unter 50 Prozent
Zustimmung gerutscht.
Allerdings: Auch wenn die soziale Kluft in Deutschland tiefer wird
— von wirklich lebensbedrohlicher Not sind wir noch entfernt.
Wer von Armut betroffen ist, muss deswegen nicht zwangsläufig
unter Brücken schlafen oder Hunger leiden. Hier helfen die
staatlichen Transferleistungen wie Sozialhilfe, Arbeitslosengeld,
Miet- und Heizkostenzuschüsse, Kindergeld. Zudem ist die
Definition von Armut umstritten. Nach europäischem
Maßstab gilt als armutsgefährdet, wer weniger als 60
Prozent des mittleren Einkommens verdient. Als Alleinlebender sind
dies zurzeit monatlich 781 Euro netto. Doch Statistiken haben ihre
Tücken: Würde sich das Durchschnittseinkommen in
Deutschland verdoppeln, blieben Menschen in den Augen der
Statistiker auch mit deutlich mehr Geld weiterhin arm, da sich an
der zugrunde gelegten Relation von 60 Prozent des
Durchschnittseinkommens nichts veränderte.
Wer jeden Cent sparen, jeden Euro dreimal umdrehen muss, für
den sind solche Rechenspiele egal. Er muss sehen, wie er den Alltag
bewältigt, die Kinder vernünftig großzieht,
Anschluss am Leben hält. Wer kein Geld hat für eine
Kinokarte oder mal ein Glas Wein im Restaurant, fühlt sich
rasch einsam und ausgegrenzt. Das Schlimmste an Armut ist
häufig die Perspektivlosigkeit, das Gefühl, an der
eigenen Lage nichts ändern zu können.
In der Politik ist der Alarm des Armutsberichts angekommen. Einige
Parteien überschlagen sich mit Forderungen nach Steuer- und
Abgabesenkungen, höherem Kindergeld und angesichts der
Explosion der Energiepreise nach neuen Sozialtarifen. Doch sind das
die richtigen Rezepte? Sind die eigentlichen Stellschrauben im
Kampf gegen die Armut nicht andere — etwa entschiedene
Investitionen in eine bessere Kinderbetreuung und in die Bildung
insgesamt? Denn eines prophezeien alle Experten: Nur wer gut
ausgebildet ist, hat künftig Chancen, Arbeitslosigkeit und
Armut von sich fernzuhalten.
Die Gretchenfrage heißt zudem: Wer soll Steuersenkungen oder
höhere Leistungen bezahlen? Da werden die Mienen in der
Politik schnell länger. Denn die Große Koalition hat
sich auf den Schuldenabbau und die Sanierung des Staatshaushaltes
verschworen. Auch dies ist eine Frage der Gerechtigkeit. Zwischen
den Generationen.
Erschienen am 13. August 2008
Armutsbericht
Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zum
Download:
www.bmas.de/coremedia/generator/26744