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Informationen über dieses Dokument: Seitentitel: „Legitimation durch Zusammenleben”
Gültig ab: 06.08.2008 10:19
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„Legitimation durch Zusammenleben”

Winfried Hassemer als Vorsitzender des Zweiten Senats und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts neben seinen Richterkollegen

© Picture-Alliance/Uli Deck

Im Interview: Winfried Hassemer

Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts über die Leistungen und Vorzüge des Grundgesetzes und über die Bedeutung des Artikels 146

Blickpunkt Spezial: Im Herbst 1948 begannen im Parlamentarischen Rat die Arbeiten zum Grundgesetz. Was hat im Rückblick das Grundgesetz geleistet?

Winfried Hassemer: Es gab viele grundlegende Entwicklungen, die den Zustand unseres Staatswesens nach dem Zweiten Weltkrieg geformt haben. Das Grundgesetz war nur ein Faktor — freilich ein sehr gewichtiger, betrachtet man einmal die Wirkungen von „Verfassung” für das Gemeinwesen in unserer Geschichte und bei unseren Nachbarn. So wird man sagen können, dass innerer Friede, Stabilität der Institutionen und der Stellenwert von „Gerechtigkeit” in der Bundesrepublik sich auch dem Grundgesetz verdanken.

Blickpunkt: Sind auch Versäumnisse festzustellen? Hätte es etwa nach der Wiedervereinigung einer Grundreform bedurft?

Hassemer: Das Grundgesetz hat die künftige Entwicklung erstaunlich gut vorausgesehen — bis auf bestimmte Bereiche, etwa in der Wirtschaft. Die Wiedervereinigung war deshalb eher ein Anlass für eine feierliche Bestätigungdes Grundgesetzes im vereinigten Deutschland als für eine Grundreform. Ich habe aber Verständnis für diejenigen, die fürchten, eine Entscheidung einer so komplexen Grundfrage könnte — wie wir das auch derzeit in „Europa” sehen — aus den falschen Gründen negativ ausfallen. Dennoch: Schade.

Blickpunkt: Über das Grundgesetz ist nie vom Volk direkt abgestimmt worden. Ist das ein Geburtsfehler?

Hassemer: Nein. Natürlich liegt es nahe und ist es demokratisch selbstverständlich, über eine Verfassung direkt abzustimmen, bevor sie in Kraft tritt; das ist auch meine Meinung. Andererseits gibt es gerade bei einer Verfassung so etwas wie eine „Legitimation durch Zusammenleben”: durch die alltägliche, auf einem breiten Konsens beruhende, im öffentlichen Streit über Einzelheiten immer wieder bestätigte Zustimmung zur Verfassungswirklichkeit.

Blickpunkt: Warum behält sich das Grundgesetz in Artikel 146 vor, durch Volksabstimmung eine neue Verfassung zu beschließen?

Hassemer: Das Bonner Grundgesetz ist auch durch Vorläufigkeit und Offenheit gekennzeichnet; gerade das hat ihm nach meiner Meinung eine lebendige und belastbare Stabilität verliehen. Sieht man das so, dann lässt sich Artikel 146 als feierliche und öffentliche Erinnerung daran verstehen, dass auch die gelebte Verfassung der förmlichen Zustimmung des Volkes bedarf und bis dahin eben vorläufig ist. Mehr sollte ein Verfassungstext nicht anordnen.

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Erschienen am 13. August 2008

Zur Person:

Professor Winfried Hassemer (2. von links), Jahrgang 1940, gilt als einer der profiliertesten Juristen Deutschlands. Seit 1996 war er Richter am Bundesverfassungsgericht, ab 2002 bis zu seiner Pensionierung im Mai 2008 als Vizepräsident und Vorsitzender des Zweiten Senats.


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