Alle reden von 68, von Dutschke, der APO und den Vietnamdemos.
Weitaus seltener wird derzeit über die revolutionären
Unruhen in der Tschechoslowakei geredet. Dort, wo im August 1968
ein ganzes Volk auf die Straße ging, um sein Recht auf
Freiheit und Demokratie gegen die anrollenden Panzer des Warschauer
Paktes zu verteidigen. Die Rede ist vom Prager Frühling, der
mit dem neuen KP-Chef Alexander Dubčekund dem Traum von einem
„Sozialismus mit menschlichem Antlitz” begann und mit
zahlreichen Toten und zerstörten Hoffnungen endete. An dieses
wagemutige Experiment erinnern nun Deutsche, Tschechen und Slowaken
mit einer Fotoausstellung im Paul-Löbe-Haus. Zusammengebracht
hat sie der Bundestag, dem sie ihre Ausstellungsideen
unabhängig voneinander fast zeitgleich vorgelegt hatten. Bald
darauf wurde ein gemeinsames Konzept geschmiedet. Zur
Eröffnung am 25. Juni haben sich die Premierminister beider
Länder angekündigt.
„Im Gedächtnis der meisten Menschen haben sich vor allem
die Bilder vom Einmarsch der Truppen am 21. August
eingeprägt”, sagt Jürgen Danyel vom Zentrum
für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er leitet das
Projekt, das zusammen mit dem tschechischen und dem slowakischen
Kulturzentrum entwickelt wurde und von der Bundesstiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur und den Botschaften gefördert
wird. „Wir wollen nicht nur jene Aufnahmen zeigen, die damals
um die ganze Welt gingen und längst zu Ikonen der
Fotografiegeschichte geworden sind”, bekräftigt der
Zeithistoriker. Die Ausstellung soll den Blick auf den Prager
Frühling in mehrfacher Hinsicht erweitern. Aufnahmen von
hierzulande meist unbekannten Fotografen wie Miroslav Hucek oder
Dagmar Hochová-Reinhardtová illustrieren, welch
emanzipatorischer Geist bereits seit Mitte der 60er- Jahre
herrschte. „In Theater, Film, Musik und Literatur als auch in
anderen gesellschaftlichen Bereichen begann man sich lange vor 1968
von politischer Bevormundung und ideologischen Fesseln zu befreien.
Genau dies macht die vielen Gesichter des Prager Frühlings
aus”, erläutert Danyel den Ausstellungstitel.
Wiederentdeckt hat die bislang kaum bekannten Fotos die
tschechische Fotografin Dana Kyndrová. Die Kuratorin der
Ausstellung kennt nicht nur die atmosphärisch dichten
Aufnahmen, sondern auch die Menschen hinter den Kameras und deren
wechselvolle Lebensgeschichten. Ihre Erlebnisse und Fotos
dokumentieren die Aufbruchsstimmung und die gewaltsame
Niederschlagung ebenso eindrücklich wie die Begleittexte des
deutschtschechischen Historikerteams, das sein besonderes Augenmerk
auf die Rolle der Parlamente im Demokratisierungsprozess gelegt
hat. Die Ausstellung und die sie thematisch begleitenden
Veranstaltungen sollen aber auch West- wie Ostdeutsche anregen,
über ihr eigenes 68 und das der anderen nachzudenken und zu
sprechen. Nicht Dubček statt, sondern Dubček und
Dutschke.
Text: Jörg von Bilavsky
Erschienen am 18. Juni 2008
Fotoausstellung
Die Gesichter des Prager Frühlings — 1968 in der
tschechoslowakischen Fotografie
Ort: Deutscher Bundestag, Paul-Löbe-Haus
Öffnungszeiten: 26. Juni bis 30. August;
Mo. 8—16 Uhr, Di.—Do. 8—17 Uhr, Fr. 8—14
Uhr
Informationen: (0 30) 2 27-3 36 44
Der Eintritt ist frei.