Eine halbseitige "Erklärung des Vorsitzenden der 2. Runde der Sechser-Gespräche" konnte der chinesische Vize-Außenminister Wang Yi schließlich verlesen: gute Wünsche und Hoffnungen werden auf eine weitere Verhandlungsrunde etwa Ende Juni 2004 in Peking vertagt. Denn Pjöngjang will offensichtlich mehr als nur wirtschaftliche Hilfe. Diese hat Südkorea gegen ein Einfrieren des Atomwaffenprogramms angeboten. Das nordkoreanische Regime stimmt einem solchen Einfrieren seines nuklearen Plutonium-Potentials jedoch nur zu, wenn die USA ihre "feindliche Politik" gegenüber Pjöngjang beende. Washington dagegen knüpft mögliche Vereinbarungen an eine "vollständige, überprüfbare und unwiderrufliche Abrüstung", welche auch ein Programm zur Anreichung von Uranium umfasst. Nukleare Drohgebärden sind seit über zehn Jahren Teil der nordkoreanischen Überlebensstrategie. Am Rande des wirtschaftlichen Kollapses hat der totalitäre Überwachungsstaat bereits Anfang der 90er-Jahre versucht, wirtschaftliche und politische Zugeständnisse von der internationalen Gemeinschaft zu erpressen: Nordkorea drohte im Frühjahr 1993, aus dem Atomwaffensperrvertrag auszutreten Nach langwierigen Verhandlungen, an denen auch Südkorea und China beteiligt waren, einigten sich Washington und Pjöngjang im Oktober 1994 auf ein "Rahmenabkommen": für die Offenlegung und den Abbau der nordkoreanischen nuklearen Kapazitäten sicherte die USA dem Regime politische Normalisierung und wirtschaftliche Hilfe, unter anderem Öllieferungen und den Bau von zwei Leichtwasserreaktoren bis 2003 zu. Die atomare Gefahr schien vorerst gebannt.
Nordkorea kam der Offenlegungspflicht nur schleppend nach. Mangelnde Konkretisierungen innerhalb des Abkommens kamen ihm dabei zugute. "Vielleicht haben wir zu große Zugeständnisse an Nordkorea gemacht", sagte der ehemalige südkoreanischen Sicherheitsberater Chung Chung-wook auf einem Panel des Nautilus-Instituts im März 2003. Der Bau der Reaktoren verzögerte sich. Im Juni 2001 drohte die Nordkorea deshalb, die Vereinbarung platzen zu lassen.
Im Oktober 2002 kam es zum Eklat. Während Verhandlungen mit einer US-amerikanischen Delegation gab Pjöngjang zu, ein Programm zur Anreicherung von Uranium zu besitzen, was de Führung jedoch später wieder relativierte. Es ginge nur um das potentielle und grundsätzliche "Recht auf Besitz", so Pjöngjang. Nordkorea bezeichnete sein Vorgehen als Antwort auf die Bemerkung des US-amerikanischen Präsidenten Georg Bush, Nordkorea sei als Teil der "Achse des Bösen" ein potentielles Ziel für Nuklearangriffe. Im Dezember 2002 warf Nordkorea die Beobachter der Internationalen Atombehörde aus dem Land, begann sich an Plutonium-Brennstäben seines Fünf-Megawatt-Reaktors in Yongbyon zu schaffen zu machen und trat am 10. Januar 2003 aus dem Atomwaffensperrvertrag aus. Seitdem hat sich Pjöngjang als Meister der Diplomatie präsentiert: Bedrohung aufbauen, Widersprüche einflechten, Forderungen stellen, Verhandlungsbereitschaft signalisierten. Und alles wieder von vorne.
Das Erfolgsgeheimnis der nordkoreanischen Strategie ist ihr hoher Risikofaktor. Auch wenn es keine gesicherten Beweise gibt, ob und wie viele Atomwaffen Pjöngjang hat, so zwingt doch die Angst vor einer tödlichen Fehleinschätzung die Verhandlungspartner immer wieder zu Zugeständnissen. Dass Nordkorea das Potential besitzt, Plutonium zu produzieren und atomwaffengerecht aufzubereiten, ist unumstritten. Der größte bekannte Reaktor in der Stadt Yongbyon kann nach Schätzungen des Carnegie Endownment für International Peace genug Plutonium für eine Atombombe pro Jahr produzieren. Pjöngjang besitzt zudem 8.000 Brennstäbe, aus denen Plutonium für rund sechs Bomben entstehen könnten. Darüber hinaus befürchten insbesondere die Vereinigten Staaten, dass Nordkorea seine Nukleartechnik nicht nur als Erpressungsmittel, sondern auch als Exportgut einsetzt.
Pjöngjang gilt als "schwarzes Loch" der Informationen. Der Eindruck vieler westlicher Analysten von einem schnellen Zusammenbruchs des Regimes hat sich nicht bestätigt. Zwar haben der Wegfall der sowjetischen Hilfsleistungen Anfang der 90er-Jahre, die Kriegswirtschaft sowie Folgen der zentralen Planwirtschaft dazu geführt, dass das Regime ohne ausländische Unterstützung nicht überlebensfähig ist. Zudem wird die bröckelnde Zentralmacht durch zaghafte Privatisierungsmaßnahmen in der Landwirtschaft und eine sich ausweitende Schattenwirtschaft weiter angekratzt. Jedoch ist es der Führung unter dem "lieben Führer" Kim Jong-Il, der sich wesentlich auf einige enge Vertraute und Generäle stützt, gelungen, das Land durch eine totalitäre Machtausübung und ein lückenloses Informationsmonopol zusammenzuhalten. Die desolate wirtschaftliche Lage wird dabei als Ergebnis des US-amerikanischen Embargos verkauft. Zwar ist der 62-jährige Kim Jong-Il nicht so populär und visionär wie sein 1994 verstorbener Vater, der "große Führer" Kim Il-Sung. Aber er versteht sich auf eine geschickte und aus der Sicht eines überlebenswilligen totalitären Regimes rationale Politik. Auf einen baldigen Kollaps als Lösung der Nuklearfrage ist kein Verlass.
Auf Reform und Öffnung des Regimes zu hoffen ist ebenfalls unrealistisch. Zumal der Erfolg einer wirtschaftlichen Transformation, wie sie die Volksrepublik China nach 1978 durchlaufen hat, nach Analyse von Hanns Günther Hilpert, Mitarbeiter bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin, eher unwahrscheinlich ist. Nordkorea fehlen für solch eine Entwicklung die finanziellen Mittel und eine intakte zentralstaatliche Autorität. Nicht zufällig haben die Sechsergespräche in Peking stattgefunden. Bereits von drei Atommächten umringt, misst die chinesische Führung der Nordkorea-Frage eine große Bedeutung zu und engagiert sich zunehmend als Vermittler. China signalisierte Pjöngjang schon im vergangenen Jahr, dass man bei aller Unterstützung keine nuklearen Experimente wünscht. Angesichts der wachsenden Flüchtlingsproblematik fürchtet nicht nur Peking darüber hinaus auch den Kollaps des zudem geostrategisch bedeutsamen Pufferstaates. Schließlich sieht die chinesische Führung außerdem die Gefahr, dass die Nordkoreaproblematik ein atomares Aufrüsten in der Region initiieren könnte. Bereits jetzt denkt Japan, über das Nordkorea 1998 eine Rakete hinweg schoss, laut über den Ausbau seiner Verteidigungsfähigkeit nach. Südkorea verfolgt prinzipiell eine Annäherung mit seinem Nachbarn durch wirtschaftliche Kooperation: nicht nur Atomwaffen, sondern auch Artilleriewaffen und Raketen bedrohen das Land. Die Wiedervereinigungsfrage steht zudem weiterhin im Raum. Russland ist ein nukleares Nordkorea ebenfalls ein Dorn im Auge, allerdings sieht es in der Nuklearfrage auch eine Möglichkeit, seinen Einfluss in Nordostasien wieder auszuweiten. Die USA setzt in der Nordkoreafrage verstärkt auf die Zusammenarbeit mit den regionalen Verbündeten und auch insbesondere mit China. Keine militärischen Aktionen, "komplette, überprüfbare und unabänderliche" Abrüstung des Atomprogramms und eine Stabilisierung Nordkoreas sind aktuelle Prioritäten. Stimmen der "Falken" in Washington lassen allerdings auch immer wieder den Kollaps Pjöngjangs als Ziel verlauten.
Das Ende des jetzigen nordkoreanischen Regimes scheint langfristig das wahrscheinlichste Szenario zu sein. Bis dahin bleibt es zweifelhaft, ob es seine atomare Trumpfkarte jemals ganz aufgibt. Selbst wenn eine neue Vereinbarung zustande kommen sollte, ist nicht auszuschließen, dass Pjöngjang durch die Schaffung von Sicherheitsrisiken weiterhin versuchen wird, Zugeständnisse zu erpressen. Zumindest solange bis Nordkorea sein Ziel gleichberechtigter politischer Beziehungen zu den USA erreicht hat. Pjöngjang leidet unter der Isolierung, zumal der Nachbar Südkorea auf dem internationalen Parkett willkommen ist. Deshalb muss die internationale Gemeinschaft auch in Zukunft den Verhandlungseinsatz immer wieder neu abwägen: die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearkrieges versus Kosten und Nutzen weiterer Zugeständnisse sowie die Folgen eines Zusammenbruchs des Regimes.