Mehr als 20 Wachttürme, etliche Kameras, hunderte Scheinwerfer, Wärmemelder, Infrarotgeräte, ein hoher doppelter Zaun, dazwischen genügend Raum für Patrouillengänge. Er schlängelt sich über nackte Felsen und halbgrüne Hügel bis hin zum einzigen Grenzübergang. Mit Europas teuerstem Zaun, wie es Spötter nennen, schottet sich Spanien gegen die vermeintliche Flut von Marokkanern und Angehörigen praktisch aller anderen afrikanischen Nationalitäten ab, die Ceuta zu überrennen droht.
Abderrazak versucht, die Festung zu nehmen. Seit fünf Jahren schon. Aber nicht so wie seine Freunde, die sich in Kühlräumen einschließen oder unter Fahrgestelle von Lastwagenanhängern klammern und hoffen, irgendwie unerkannt durch den Freihafen von Tanger oder die Grenze nach Ceuta aufs Europäische Festland zu kommen. Der 26-Jährige wohnt in Salé, genauer gesagt: mit drei Brüdern und sechs Schwestern in einem Häuschen in einem der euphemistisch "quartiers populaires" genannten Wohnvierteln, die sich nur in Nuancen von den "bidonvilles", den "Müllstädten", wie man Slums in West- und Nordafrika nennt, unterscheiden.
Salé ist die hässlichere, mittelerweile aber wohl größere Schwester der marokkanischen Hauptstadt Rabat. Und aus drei Gründen bekannt: im Mittelalter war die Stadt ein Piratennest, in dem Seeräuber Zuflucht fanden. Heute beherbergt Salé Marokkos modernstes Gefängnis und ist eine Hochburg der hiesigen Islamisten. Von hier kommt einer der Anführer der Gruppe, die angeblich vergangenes Jahr in Casablanca jugendliche Selbstmordattentäter Anschläge verüben ließ. Bilanz: über 40 Tote. Der Mann predigte in einer Moschee nahe der Altstadt.
Abderrazak hat mit diesen Leuten nichts gemein. Er trägt Jeans und T-Shirt. Wenn er ein paar Dirhams übrig hat, geht er ins Fitnessstudio, um seinen kleinen Bauch wegzutrainieren, der auf Bier- und Weingenuss schließen lässt, und seinen gestutzten Bart lässt er sich alle paar Wochen vom Barbier in neue Muster schneiden. Es kommt allerdings immer seltener vor, dass Abderrazak die Dirhams fürs Fitnessstudio übrig hat. In einem Handwerkszentrum hat er seit seinem neunten Lebensjahr Rohre für Rattanmöbel geflochten. Doch seit ein paar Jahren ist in Marokko Schmiedeeisen populär geworden; kaum jemand will noch Rattanmöbel haben. Seitdem ist Abderrazak arbeitslos. Jetzt geht er immer öfters zum Strand, schaut übers Meer - da, wo Europa liegen muss - und schweigt.
Seinen ersten Versuch, ins gesegnete Land zu kommen, hat er vor fünf Jahren gestartet. Mit gefälschtem Arbeitsvertrag, gefälschtem Visum und gefälschtem Namen hat er sich nach Italien aufgemacht. Drei Monate später war er wieder da. Er hatte sich in einer Kneipe mit einem Polizisten angelegt. Das war ein Fehler. Erst haben sie ihn verprügelt, dann haben sie ihn wieder heimgeschickt.
Abderrazaks Weg nach Europa führt derzeit erst einmal durch Betten: zur Zeit hat er eine deutsche Freundin, also steht Deutschland im Moment ganz weit oben. Dass die Damen alle älter sind als er, dass sie nicht wirklich das sind, was man attraktive Frauen nennt, ist ihm egal. Hauptsache Europa. Die Festung will er jetzt im Schlaf stürmen.
Aderrazak weiß, dass ihn in Deutschland keiner will. Und in Frankreich auch nicht. Genausowenig wie in Spanien oder Italien. Aber er weiß auch, dass ihn in Marokko niemand will. Alles, was er will, ist, genug Geld zu verdienen für sich und für seine Familie. Das Haus bräuchte endlich mal ein Dach, durch das es nicht jeden Winter durchregnet; der Vater vegetiert in einer Ecke des Wohnzimmers auf dem Fußboden blind und zuckerkrank seinem Tod entgegen; die Mutter ist auch krank und bräuchte Behandlung. Als er noch Arbeit hatte, ging es noch; zwei Schwestern haben was verdient, zwei Brüder auch, doch die Teppichknüpferei, in der die Schwestern tätig waren, hat zugemacht, und jetzt fehlt es an allen Ecken und Enden. Und in Europa, da ist er sich ganz sicher, da kann man was werden, wenn man bereit ist, hart zu arbeiten. Er war ja schließlich schon mal da.
"Schau, der da hinten!" Abderrazak sitzt am Strand und deutet auf einen Jungen in der Menge. "Das ist Mohammed. Der kommt auch von hier. Aber jetzt lebt er in Frankreich und fährt ein gutes Auto und verdient viel Geld." Der Junge, auf den er deutet, ist vielleicht 18 oder 19 Jahre alt. "3.000 Euro im Monat!" "Was macht er denn, Dein Freund?" "Er arbeitet in einem Hotel." Und verdient 3.000 Euro? Ja, da ist sich Abderrazak ganz sicher. Und außerdem: fährt er nicht einen Opel, neuestes Modell?! Das "neueste Modell" entpuppt sich als nicht mehr ganz taufrischer Tigra. Dessen Produktion wurde vor vier Jahren eingestellt.
Abderrazak träumt, und in seinem Traum gibt es keine Festung Europa. So wie er träumen Millionen seiner Landsleute. Vor ein paar Jahren hat Marokkos Regierung eine Meinungsumfrage erstellen lassen. Auf die Frage, ob sie ihr Land verlassen könnten, wenn sie wollten, haben mehr als 80 Prozent der unter 27-Jährigen mit "Ja" geantwortet. Seitdem hat die Regierung keine Meinungsumfrage mehr veröffentlicht.
"Wir brauchen einen Marshallplan von Europa für die südlichen Anrainerstaaten - und besonders für Marokko." So sieht das Hiberto Malainine. "Marokko hat große Anstrengungen unternommen, hat sich geöffnet, Marokko wird ein demokratisches Land, es braucht Hilfe auf dem Weg in die Demokratie." Der soignierte Herr in den Fünzigern ist Präsident des ma-rokkanischen Fischereiverbandes, und sein Amtssitz ist eine gediegene ältere Villa in Rabats schickstem Stadtteil Souissi. Hier wiegt sich der Wind sanft in den Bäumen, rot und gelb und blau strahlen die Blumen in den gepflegten Rabatten um die Wette. Weiter weg als von Abderrazaks Salé kann man kaum sein. "Mit der Polizei der gesamten Welt werden Sie nicht Leute aufhalten, die Hunger haben und in eine Gegend wollen, wo sie ein besseres Leben erhoffen."
Malaininie drückt das aus, was viele marokkanischen Intellektuelle, ob links ob rechts, ob in der Regierung oder der Opposition, denken: Sie fühlen sich allein gelassen von Europa, das seine Grenzen schließt. Vor allem, weil sie es selbst in ihrer Jugend noch ganz anders erlebt haben. Fast die gesamte Elite des Landes hat in Frankreich, Spanien oder den USA gelebt oder studiert oder die Länder zumindest bereist. Ihre Söhne und Töchter können das nicht mehr. Die Türen für viele sind zu. Das hinterlässt Bitterkeit bei vielen. Visum oder nicht Visum, das kann Lebens-läufe entscheiden - oder zumindest die Stimmung wochenlang in der Familie drücken, wenn es mal wieder nicht geklappt hat mit den Deutschen oder die Beziehungen ins französische oder spanische Konsulat doch nicht so gut waren, wie man dachte.
Schlimmer noch: Europa schließt seine Grenzen Richtung Süden, aber nach Osten, da öffnet sich der Kontinent scheinbar. Polen, Slowenen, Esten: Wegen ihnen, davon sind viele Entscheidungsträger in Marokko überzeugt, müssen sie leiden. "Wie wollen Sie die Emigration nach Europa aufhalten," sagt Malainine und gestikuliert leidenschaftlich, "wenn Europa uns nicht hilft? Die Lösung der Emigration liegt nicht im Polizeibereich, sondern im sozialen Bereich. Wir versuchen alles, um hier Fabriken anzusiedeln, aber dabei muss uns Europa helfen." Europäer hingegen sagen unter der Hand weniger freundliche Dinge: Warum sollen wir in Marokko investieren, wenn die potenziellen marokkanischen Investoren zwar unser Geld wollen, ihr eigenes aber lieber ins Ausland bringen, statt ihr Land aufzubauen?
"Wir sind integraler Bestandteil des strategischen und wirtschaftlichen Großraums Europa, ob Europa das nun will oder nicht", glaubt der Lobbyist der Fischindustrie, einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in Marokko. "Wir brauchen ein Sofortprogramm, damit Arbeitsplätze geschaffen werden können." Das Sofortprogramm ist nicht in Sicht, doch nicht nur Verbandsführer wünschen es sich - auch die marokkanische Regierung glaubt: auf den Marshallplan haben wir einen Anspruch. Der Druck, den vor allem Spanien auf Marokko ausübt, endlich seine Außengrenzen besser zu überwachen, erzeugt trotzige Reaktionen: "Wenn Ihr wollt, dass wir unsere Grenzen dichtmachen, dann müsst Ihr unseren Leuten eine geregelte Immigration ermöglichen." Diese Haltung kommt nicht überraschend: Je mehr Menschen emigieren, umso besser geht es Marokko. Kein afrikanisches Land erhält soviel Devisen von seinen Emigranten, und für den desolaten marokkanischen Arbeitsmarkt, auf den jährlich zigtausende Jugendliche drängen und nichts finden, ist jeder Kandidat weniger ein Gewinn.
So bewegt sich Marokkos Politik auch nur millimeterweise. Seit Anfang dieses Jahres gehen an der Mittelmeerküste zwischen Tanger und der spanischen Enklave Ceuta marokkanische und spanische Grenzpolizisten gemeinsam auf Patrouille. Schlepperei ist mittlerweile ein Straftatsbestand. Allerdings, so erklärte Innenminister Al Mustapha Sahel, gleich, nachdem er die neuen Gesetze verkündet hat: Man könne trotz des Kampfes gegen die illegale Emigration nicht verkennen, "dass die Länder nördlich des Mittelmeeres einen Rahmen bieten müssen, damit Menschen legal emigrieren können. Sie müssen den Menschen Hoffnung geben, die auf einem legalen Weg nach Europa gehen wollen, um dort zu arbeiten."
Dass das irgendwann in den nächsten Jahren geschieht, ist nicht zu erwarten. So wird Abderrazak weiter hoffen müssen, dass eine der Damen ihn erhört - Heirat ist schließlich der einzig sichere Weg, die Festung Europa zu stürmen.
Rüdiger Maack ist ARD-Hörfunk-Korrespondent in Rabat.