Die Frauen in ihren Ganzkörperschleiern sind bunte Farbtupfer im Stadtbild. Nur übertroffen von den überall präsenten Obstauslagen entlang der Hauptstraße und den zahlreichen Basare. Pyramiden von Granatäpfeln, Pfirsichen, Feigen, Trauben und einige der süßesten Melonen, die man sich vorstellen kann. Je tiefer man in das Gewirr der engen Gassen vorstößt, desto mehr scheint man einem vergangenen Zeitalter entgegenzustreben. Biblische Bärtige mit Turban kommen einem entgegen, Pferdekarren, Menschen, die Pferden gleich mit verzerrtem Gesicht schwerbeladene Gespanne hinter sich herziehen.
Die schwarzen Turbane, Zeichen der Talibanherrschaft, sind im Stadtbild verschwunden. Der Fluch, die ehemalige Hochburg der Bewegung zu sein, ist Kandahar geblieben. 1994 nahmen die bewaffneten Koranschüler und ihr Führer Mullah Omar, von Pakistan aus kommend, die Stadt, ohne dass ein einziger Schuss fiel. Heute residiert die US-Army in der umwaldeten Wohnanlage des flüchtigen Taliban-Chefs vor den Toren der Stadt.
Viele Lehmbauten in Kandahar gleichen Ruinen, das sechsstöckige Gebäude des staatlichen Rundfunks ist durchlöchert von Einschüssen und Raketen-Kratern. "Die meisten Zerstörungen rühren aus der Zeit der sowjetischen Besatzung her", sagt Sarah Chayes, eine Amerikanerin. "Die US-Truppen sind hier im Dezember 2001 mit chirurgischer Präzision vorgegangen. Wenn es Häuser von mutmaßlichen Taliban oder Al Qaida-Mitlgiedern gab, wurden diese zielgenau gesprengt." Klingt wie aus dem Mund eines Public Relations Officers der US-Armee. Aber Sarah Chayes ist so ziemlich das Gegenteil. Die 42-Jährige ist eine der wenigen Ausländerinnen, die in Kandahar nicht unter dem Dach eines UN-Guesthouses lebt. Vor drei Jahren kam sie als Journalistin in die Stadt. Heute leitet sie dort eine Genossenschaft für Milch- und Molkerei-Produkte, spricht fließend Paschtu, die Landessprache des Südens und fährt ohne Schleier mit langem Haar in ihrem Landrover durch die Straßen der Stadt.
Das geht freilich nur, weil sie höchsten Schutz genießt. Die schützende Hand über Sarah Chayes heißt Kayoum Karsai. Er ist einer von zwei Brüdern des Staatspräsidenten Hamid Karsai, die in Kandahar residieren. Der zweite Bruder, Walli Karsai, ist eine Eminenz. Am Tor seiner weiß-marmorierten Villa stehen junge und alte Männer Schlange. "Wenn es beim Gouverneur nicht weitergeht, kommen wir hierher", erklärt ein Mann mit Turban seine Beweggründe. Walli Karsai sitzt im ersten Stock. Ein ständiges Kommen und Gehen herrscht in seinen mit weichen Teppichen ausgelegten Empfangs-Suiten. Der Mann wirkt auf den ersten Blick wenig dynamisch, unscheinbar, alles andere als eine Kopie seines bekannten Bruders.
"Ich leite die große Shura von Kandahar. Und ich versuche hier Stammes-Fehden zu schlichten", gibt der rund 40-Jährige Auskunft. Der jüngere Karsai-Bruder nennt noch ein anderes Ziel: die Menschen in Kandahar den Koalitions-Kräften näher zu bringen. Ob das gelungen ist, bleibt fraglich. Der über 1.000 Mann starke US-Luftwaffen-Stützpunkt vor den Toren von Kandahar, einst von den Amerikanern als Auftankstation für Passagierflüge zwischen Europa und Indien gebaut, schickt nur gepanzerte Fahrzeugkonvois in die Stadt. Im Ausguck Soldaten mit Maschinengewehr im Anschlag, die ihre Angst angestrengt unter Kontrolle halten. "Die Amerikaner hier machen einen großen Fehler: alle Afghanen, die sie auf dem Stützpunkt anstellen, sind von einem Stamm, dem der Barakzai. Das ist der Stamm, dem auch der Gouverneur angehört", erklärt Sarah Chayes. Die anderen großen Stämme, Atzeksai und Popolzai, dem auch Präsident Karsai angehört, haben das Nachsehen. "Die Stammes-Logik ist ein wahres Fangnetz in dieser Gegend", so Sarah Chayes, "jeder, der sich nicht damit auseinandersetzt, wird früher oder später von einem der Stämme instrumentalisiert, von den anderen womöglich bekämpft."
Neben dem Fluch gibt es das Klischee der ehemaligen Taliban-Hochburg. Kandahar ist längst nicht mehr die Gegend, in der sich die meisten Aufständischen sammeln. Es sind die Nachbarprovinzen, die Kandahar wie ein Gürtel umgeben, in denen sich Taliban, Al Qaida und neuerdings eine Gruppierung Namens Jamiat Jaishal Muslemeen (JJM) tummeln. Auch der vielgesuchte Gulbuddin Hekmatyar soll dieser neuen Formation angehören. Genaues wissen, so sagen sie, weder Sicherheitsbehörden noch ISAF. Hemland, Khost, Paktia, Uruzgan und Zabul.
In diesen südlichen Provinzen sind die Afghanen fast unter sich. Es gibt keine UN-Mitarbeiter, die NGOs haben sich weitgehend zurückgezogen, keine ISAF- oder US-Truppen, die für Sicherheit sorgen, abgesehen von den jeweiligen Provinz-Hauptstädten. Freies Feld fuer die Taliban, die hier in einigen Orten die Stadtverwaltung stellen. 100 Kilometer östlich von Kandahar, jenseits der pakistanischen Grenze, leben noch viele aus dem verlorenen Krieg. "In Quetta wohnt eine Reihe ranghoher ehemaliger Taliban ungestört in gutsituierten Häusern", sagt Talat Bik von der UN in Kandahar.
Die Infliltration über das meist bergige Grenzland findet unbemerkt statt, jedenfalls wird sie nicht aktiv verhindert. Manche Attentäter kommen mit dem Mottorrad über die Grenze, um ihre Anschläge auszuführen. "Hit and run", nennt Nick Downie von der Sicherheitsorganisation ANSO das. "Wir beobachten auch Gruppen von vier bis 20 Männern, die sich in diesen Provinzen bewegen und dann wieder untertauchen. Welche Strategie sie mit Blick auf die Wahlen verfolgen, können wir nur ahnen", so Downie.
Eines scheint klar. Die Aufständischen, deren harter Kern einige 100 Männer vermutlich nicht überschreitet, wollen die erste demokratische Präsidentenwahl in Afghanistan am 9. Oktober mit allen Mitteln verhindern. "Wir steuern auf einen blutigen September zu, und dann gibt es einen tödlichen Oktober", heißt es in einer Erklärung der JJM.
Der jüngste Anschlag in Kabul, im Herz der westlichen Hilfsorganisationen und ihrer Verlustierungsplätze, könnte ein Vorgeschmack darauf sein. In Kandahar ist unlängst das Gebäude des UNHCR-Flüchtlingshilfswerks angegriffen worden. "Es gibt keinen von uns, der nicht im Laufe der letzten Monate mit der Waffe bedroht worden ist", sagt Peter Murphy. Der schlaksige Neuseeländer organisiert in Kandahar die Präsidentschaftswahlen. Er leitet das Regional-Büro des JEMB. JEMB steht für "Joint Electoral Management Body". Eine handvoll ausländischer Wahlexperten, die bereits Erfahrung mit der Einführung demokratischer Wahlsysteme auf dem Balkan oder auf Timor haben, leiten hier das Gros der afghanischen Mitarbeiter an. Die fahren dann in den weißen und provokativ funkelnden Landrovern mit blauer UN-Aufschrift raus ins Umland, um für eine möglichst große Wahlbeteiligung zu werben. "Anfangs dachten die Menschen, sie würden von uns Nahrungsmittel oder Gutscheine bekommen", erzählt Peter Murphy über den Auftakt der Registrierung vor wenigen Monaten. "Mittlerweile wissen sie, dass sie bei uns ihre Wahlkarte abholen können, mit der sie den neuen Präsidenten wählen".
Mehr als zehn Millionen registrierte Wähler landesweit haben JEMB und UNAMA, wie die Hilfsmission der UN für Afghanistan offiziell heißt, unlängst stolz vermeldet. Aber die Statistik hat ihre Macken. "Ich besitze zwei Wahlkarten", sagt ein junger Mann in Kandahar, der nicht namentlich genannt werden möchte. "Ich kenne welche, die haben sechs oder sieben Wahlkarten. Es war ganz einfach daranzukommen. Keiner hat überprüft, ob ich schon eine hatte." Peter Murphy vom JEMB sagt dazu scheinbar ohnmächtig: "Es gibt diese Fälle. Aber mir ist lieber, dass möglichst viele Afghanen zur Wahl gehen, als dass einer nicht registriert ist".
Am Wahltag wird jeder Wähler, gleich ob Analphabet oder des Schreibens kundig, seinen rechten Daumen in ein blaues Stempelkissen drücken müssen. So soll verhindert werden, dass Bürger mehrfach wählen. Der blaue Daumenabdruck birgt aber auch eine Gefahr: er ist für die militanten Gegner der Wahl leicht auszumachen. Bislang haben die Taliban rund 20 Menschen umgebracht, allein weil ihre Opfer im Besitz des Wahl-Ausweises waren. Die Registrierung zur Wahl gilt den Taliban als Verrat, als Akt der Kollaboration mit den Ungläubigen. Auch zwölf afghanische Mitarbeiter des JEMB mussten deshalb bisher ihr Leben lassen. "Die Wahlen werden nicht frei sein, sie werden nicht fair sein. Im besten Fall werden sie akzeptabel sein", sagt Adam Kaplan, ein Amerikaner und Experte für die internationale Migrationsorganisation IOM. Auf der Straße von Kabul nach Kandahar wurde unlängst ein öffentlicher Reisebus von der afghanischen Polizei gestoppt. Die Insassen wurden aufgefordert auszusteigen und sich registrieren zu lassen. Einige hatten bereits ihren Wahlausweis, wurden aber gedrängt sich ein zweites Mal erfassen zu lassen. Demokratischen Zwang nennt man das wohl.
In Kandahar ist die Wahlkarte mittlerweile so etwas wie ein Sesam-Öffne dich. "Städtische Krankenhaeuser, aber auch Privatkliniken operieren nur, wenn die Patienten die Wahlkarte vorzeigen", weiß Sarah Chayes. "Auch bei der Auto-Reparatur kann es passieren, dass sie den Ausweis vorzeigen müssen." Zudem wird immer wieder von spontanen Sicherheitskontrollen im ganzen Land berichtet. Wer nachweisen kann, dass er registriert ist, kommt durch. Wer keine Karte hat, muss ein Strafgeld von 500 Afghani, umgerechnet zehn Dollar zahlen, was eine enorme Summe darstellt. "Wir sind einem doppelten Zwang ausgesetzt", beklagt sich ein Arzt in Kandahar, "einerseits sollen wir um jeden Preis an der Wahl teilnehmen. Wenn man registriert ist, hat man Angst, auf dem Weg nach Hause von Taliban überfallen zu werden." Von einer Euphorie der Afghanen für den ersten wirklich demokratischen Urnengang in ihrer Geschichte kann keine Rede sein.
Gegen Mittag brennt die Sonne in Kandahar unerbittlich. Wo bei uns in Deutschland die Mittagspause beginnt, ist für viele Menschen hier Schicht. Sie stellen die Arbeit ein. Hinter den Obstauslagen strecken die Verkäufer auf der Holzbank ihre Beine lang und schlummern, nur unterbrochen von einem kurzen Mittagsessen, in den Nachmittag hinein. Die Stadt erstarrt vorübergehend. Erst am frühen Abend, wenn die Sonne untergeht, blüht das Leben wieder auf. Auf dem Basar und entlang der Hauptstraße liefern Bunsenbrenner Gaslicht, das auf die Obstauslagen fällt. Längst sind nur noch Männer zu sehen. Sie sitzen in Gruppen, an Tischen oder am Boden, oft bis Mitternacht. "Dies ist eine Wahl, die uns von den Amerikanern und den Koalitionskräften aufgedrängt wird", sagt ein Kioskbesitzer in holprigem Englisch. "Natürlich freuen wir uns, dass wir die Möglichkeit haben, für die Person unserer Wahl zu stimmen. Unter König Zaher Shah wurde auch gewählt, damals waren wir billiges Stimmvieh", erinnert er sich. "Aber die Regierung Karsai hat in zwei Jahren nicht viel erreicht. Fünf Kilometer außerhalb der Stadt sind die Wege nicht geteert. Wir haben keinen Strom und kein fließend Wasser." Ein bisschen gut und ein bisschen schlecht nennt er die Wahl und meint, er werde hingehen. Die Chance dieser Wahl ist, dass die meisten Afghanen kriegsmüde sind und bei aller Kritik am Status Quo wenig Alternativen sehen.
"Die Leute wollen zu viel zu schnell. Bevor mein Bruder Präsident wurde, war ein Dollar 70.000 Afghani wert. Jetzt sind es 45. Wir haben tausende Schulen gebaut, Frauen gehen wieder zum Unterricht. Die Menschen können wieder von Kandahar nach Mazar fahren", sagt Walli Karsai und vermisst positive Berichterstattung.
In Kandahar sprießen Neu-Bauten nicht weniger rege als in Kabul. Es riecht in diesen Tagen nach einer Gründerzeit in Afghanistan, wenn auch das investierte Geld in vielen Fällen "stinkt", weil es aus dem Drogenhandel stammt und afghanische Profiteure sich dafür ein Denkmal setzen. Der Afghani, die Landeswährung wird von Woche zu Woche stabiler. Gegenüber dem Dollar hat er bereits ein Zehntel aufgeholt. Anfang August bekam man für einen Dollar 47 Afghani. Jetzt sind es 42, und der Trend dauert an. Investitionen aus und über Iran und Pakistan haben sich stabilisiert. Der andere Teil, der den Afghani stabil erscheinen lässt, ist die Gewissheit, dass die Wahl nun wirklich stattfinden wird.
Damit ist freilich noch nicht entschieden, ob der Versuch ein Stück westliche Demokratie am Hindukusch einzuführen, von Dauer ist. Afghanistan ist geprägt von einer jahrhundertelangen Stammes-Tradition und Wahlen nach dem Prinzip der Loya Jirga, in dem Shuras und Ältesten-Räte Delegierte entsenden. "Vom Prinzip her sind beide Systeme demokratisch, das der Jirgas nicht weniger als das der westlichen Demokratie", findet Walli Karsai. Ob sie auch kompatibel sind, werden die nächsten Jahre zeigen.