Am 4. Oktober öffnet die weltgrößte Bücherschau, die Frankfurter Buchmesse, ihre Pforten - ein intellektueller Ausnahmezustand. Oder ein "Kulturevent der Superlative", wie es Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, ausdrückt. Am Dienstag wird er zusammen mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier die Messe eröffnen, die von Mittwoch bis Freitag zunächst den Fachbesuchern vorbehalten sein wird und am Samstag und Sonntag dann allen Freunden des gedruckten Wortes offensteht.
Nicht dass es die diesjährige Frankfurter Buchmesse unbedingt nötig gehabt hätte, aber pünktlich vor Beginn des deutschen Bücherherbstes haben in den vergangenen Wochen Günter Grass und Eva Herman mit ihren Büchern noch für zusätzliche Publicity und die ein oder andere kribbelige Diskussion gesorgt. Der Literaturnobelpreisträger Grass hat mit seiner Jugend-Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" (Steidl Verlag) und dem damit verbundenen Bekenntnis, als 17-Jähriger für kurze Zeit der Waffen-SS angehört zu haben, für Schlagzeilen gesorgt. Und die ehemalige Tagesschau-Sprecherin und TV-Moderatorin Eva Herman, die mit ihrem "Eva-Prinzip" (Pendo Verlag) Deutschlands Frauen auf eine "neue Weiblichkeit" einstimmen wolle, erntete viel Hohn und noch mehr Empörung. Gut für die Buchmesse, und noch besser für die Verkaufszahlen beider Bücher. Die Kulturszene lebt schließlich - auch - von solchen Aufregern.
Vielleicht werden Grass und Herman ihre Anwesenheit auf der Buchmesse ja dazu nutzen, sich mit den Gepflogenheiten auf dem indischen Buchmarkt auseinanderzusetzen. Als Gesprächspartner bieten sich da die Vertreter von gut 200 indischen Verlagen und 80 Autorinnen und Autoren an, die das Gastland in Frankfurt präsentieren werden. Nicht wenige von ihnen können zudem über ihre internationalen Erfahrungen berichten, da sie sich längst in mehreren Ländern und Kulturen heimisch fühlen.
Der 59-jährige Literaturstar Salman Rushdie etwa lebt seit Jahrzehnten in Großbritannien und den USA, sein drei Jahre jüngerer Kollege Rohinston Mistry ist Kanadier und der ebenfalls 56-jährige Vikram Seth, der gerade die indisch-deutsche Doppelbiografie "Zwei Leben" (S. Fischer Verlag) vorgelegt hat, studierte sowohl in Oxford wie auch in Stanford und verbringt viel Zeit in England. Der 43-jährige Autor Suketu Mehta, er hat gerade das hochgelobte Porträt über "Bombay. Maximum City" (Suhrkamp Verlag) vorgelegt, ist laut eigenem Bekunden ein wahres Kind der Großstädte in aller Welt: in Kalkutta geboren, in Bombay aufgewachsen, folgten Stationen in New York, Paris und London.
Schon von Berufs wegen ganz international ist der 53-jährige Shashi Tharoor. In den vergangenen 30 Jahren war der Diplomat und derzeitige Anwärter Indiens auf das Amt des UN-Generalsekretärs in der Schweiz, Singapur und den USA anzutreffen. Von ihm sind auf dem deutschen Buchmarkt in den vergangenen Wochen gleich zwei Bücher erschienen: Seine Biografie über Pandit Nehru und der Roman "Bollywood", in dem er die gleichnamige indische Filmfabrik aufs Korn nimmt, von der in diesen Tagen so viel zu hören, lesen und sehen ist (beide im Insel Verlag). "In diesen Berufen nehmen wir unsere Identität und unseren nationalen Hintergrund mit. Deshalb bin ich ein indischer Autor, der zufällig in New York lebt", sagt Tharoor über sich selbst.
Genau vor 20 Jahren präsentierte sich Indien bereits schon einmal als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Der Unterschied zu damals könnte wohl kaum deutlicher ausfallen - sowohl auf deutscher wie auf indischer Seite. Von einem Wirtschaftsboom, wie ihn der Subkontinent in den letzten Jahren erlebt hat, konnte man in Indien 1986 allenfalls träumen. Zwar war das Land seit seiner Unabhängigkeit vom zerfallenden britischen Weltreich im Kalten Krieg blockfrei geblieben, aber sein sozialistisch ausgerichteter Wirtschaftsmarkt blieb weitgehend abgeschottet. Und auch in Deutschland hat sich spätestens seit der Diskussion um die Greencard für indische Computerspezialisten und dem verbalen Fehlgriff von Jürgen Rüttgers - "Kinder statt Inder" - herumgesprochen, dass die auf 1,1 Milliarden Menschen angewachsene Nation der Inder seit den Tagen von Mahatma Gandhi und Hermann Hesses "Siddhartha" nicht nur leckere Currys zubereitet hat.
So hat Indien eben nicht nur eine Reihe international renommierter Literaten hervorgebracht, sondern sich auch zu einem gewaltigen Buchmarkt gemausert. Rund 80.000 Titel kommen jährlich auf den Markt, entweder auf Englisch oder in einer der übrigen 23 Amtssprachen; die größte unter ihnen ist Hindi. In Frankfurt wird Indien mit rund 2.000 Buchtiteln vertreten sein.
Das größte Manko des indischen Buchmarktes stellt die trotz Wirtschaftsbooms noch immer enorm hohe Analphabetenrate dar: rund ein Drittel aller Menschen in Indien über 15 Jahre kann nicht lesen.
Da trifft es sich gut, dass die Macher der Buchmesse mit dem neuen Schwerpunkt "Zukunft Bildung" einen eigenen Beitrag im Kampf gegen den weltweiten An-alphabetismus liefern wollen. Rund um den Globus, so wird geschätzt, können über 700 Millionen nichts anfangen mit ihrem "ABC". Immerhin vier Millionen davon leben in Deutschland.
Aber nicht nur Indiens Buchmarkt zieht die Aufmerksamkeit in diesen Tagen auf sich. Auch andere asiatische Länder drängen nach vorne: China, das 2009 Gastland auf der Buchmesse sein wird, hat seine Ausstellungsfläche in Frankfurt nahezu verdoppelt, Thailand und Taiwan legen um je 40 Prozent, Japan um 20 Prozent zu. Ein leichter Zuwachs zeichnet sich auch bei lateinamerikanischen und südosteuropäischen Verlagen ab.
Auch Deutschlands Buchmarkt kann wieder ein wenig optimistischer in die Zukunft blicken. Nachdem die Branche in den Jahren von 2001 bis 2003 jährlich ein Minus im Umsatz einfahren hatte - 2004 konnte sie erstmals das Vorjahresniveau halten -, stieg im vergangenen Jahr der Umsatz wieder an: um 0,9 Prozent auf 9,16 Milliarden Euro. Auch für das laufende Jahr und für 2007 rechnet der Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit einem Wachstum.
Nach oben zeigt die Kurve auch bei den Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, ihr Anteil stieg 2005 um 3,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr: circa 900.000 neue Titel kamen auf den Markt. Mit rund 73 Prozent werden die größten Umsätze noch immer mit Hardcover-Ausgaben gemacht. Auf dem Vormarsch sind weiterhin die Hörbücher. Im Bereich der Belletristik erreichen sie inzwischen immerhin einen Anteil von 5,9 Prozent.
Doch wo Licht ist, da ist bekanntlich auch Schatten. Mit Sorge müssen die klassischen Buchhändler be- obachten, dass der Versandbuchhandel kontinuierlich weitere Marktanteile erobert. 2005 schraubte er seinen Umsatz um 13,7 Prozent nach oben. Zwar haben sich die Unkenrufe, die Digitalisierung der Medienwelt werde das Buch verdrängen, bislang nicht bewahrheitet, aber das Internet hat sich zumindest als Verkaufsplattform eben auch für Bücher seinen festen Platz erobert. Nach Schätzungen wurden im Online-Vertrieb des gedruckten Wortes im vergangenen Jahr rund 630 Millionen Euro umgesetzt - 25 Prozent mehr als noch 2004, Tendenz steigend. Noch hält der stationäre Buchhandel mit einem Anteil von 54,8 Prozent den größten Teil des Absatzmarktes, aber wenn die Entwicklung beim Online-Buch-Shopping weiterhin anhält, so werden sich die Gewichte wohl drastisch verschieben.
Das Thema Digitalisierung wird auch auf der Frankfurter Messe Thema sein. Auf dem "Digital Market Place" stellen Software- und Multimediahäuser, elektronisch publizierende Verlage sowie Online-Dienste ihre neuen Produkte aus. Mit dabei natürlich das zu den Softwaregiganten zählende Indien. Wer sich eher an alten Büchern, Handschriften und Drucken erfreut, der kann auf der Antiquariatsmesse fündig werden.
Während sich Frankfurt auf den erwarteten Besucherandrang einstellt, laufen bereits die Vorbereitungen für die nähere Zukunft. Im kommenden Jahr wird sich Katalonien als Gastland in Frankfurt präsentieren. In der autonomen Region mit ihrer Hauptstadt Barcelona im Nordosten Spaniens leben rund sechs Millionen Menschen. Ein Jahr später wird dann die Türkei im Mittelpunkt des Interesses stehen. In der vergangenen Woche unterzeichneten der türkische Kultur- minister Attila Koc und Buchmessenchef Boos in Ankara einen entsprechenden Vertrag. Mit Blick auf den umstrittenen Beitritt zur Europäischen Union und der aktuellen Diskussion über die Stellung des Islams in Deutschland mit seinen rund 2,5 Millionen türkischen Einwohnern wird der Auftritt des Gastlandes Türkei schon jetzt mit besonderer Spannung erwartet.