Die Religionen erleben eine Renaissance. Es gibt eine vagabundierende Sehnsucht nach dem Göttlichen, nach Transzendenz. Gleichwohl gilt das Christentum in Europa als erschlafft. Insbesondere der Islam tritt selbstbewusst auf und drängt die Vertreter anderer Religionsgemeinschaften, die sich ihres Glaubens unsicher sind, in die Defensive. Schlägt jetzt die selbstverschuldete Unmündigkeit des Individuums in ihr Gegenteil um? Wurden die guten Intentionen der Aufklärung bis zum Exzess überdehnt? Kommt die Wiederentdeckung des Religiösen auch dem Christentum zu gute, das im europäischen Kulturkreis die prägende Kraft war? Diese und andere Fragen stellten sich auch die Autoren des Sammelbandes "Christentum und Demokratie", der aus einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung hervorgegangen ist.
Die Beiträge von Hans Meier, Henning Ottmann, Karl Graf Ballestrem, Tine Stein, Ulrich K. Preuss und allen anderen bewegen sich auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau. Sie reflektieren alle Facetten des christlichen Beitrages zur westlichen Demokratie, Kultur und der Menschenrechte. Einige Autoren vertreten aber auch die These, dass sich diese Werte gerade gegen den Widerstand des Christentums erst durchsetzen konnten. Keiner stimmt jedoch der These zu, "dass das Christentum keinen Einfluss auf das moderne politische Denken und die Entwicklung der konstitutionellen Demokratie hatte".
Von der überragenden Rolle des Beitrages des Christentums sind alle Autoren überzeugt. Umso enttäuschender sind einige Ausführungen in der Einleitung, die den schwächsten Teil dieses hervorragenden Bandes ausmacht. Dort werden einige ethnozentrische Thesen vertreten wie: "Nicht-christlich geprägte Staaten dagegen sind bis heute zumeist keine Demokratien, wie der Blick beispielsweise auf den afrikanischen Kontinent oder die arabische Welt deutlich macht." Oder: "Je höher der Anteil der christlichen Religionen, desto tendenziell höher der Demokratisierungsgrad." Und unter Berufung auf den Demokratieindex von "Freedom House" wird tatsächlich behauptet, dass die Zahlen nahe legen, "dass offenbar vor allem das Christentum einen guten Nährboden für die Etablierung freiheitlich-demokratischer Verfassungsordnungen abgibt".
Die Erfahrung und die Empirie belehren uns aber eines Besseren. Waren nicht Spanien und Portugal bis zur Mitte der 70er-Jahre Diktaturen? Wie stand es mit Nicaragua, Paraguay und anderen heutigen lateinamerikanischen Gaudillo-Diktaturen? Wie war es um die protestantisch-rassistische Buren-Diktatur in Südafrika bestellt? Oder dem ehemaligen Rhodesien? Auch in "nicht-christlichen" Staaten Afrikas ist die Demokratie auf dem Vormarsch. Es gibt auch einige muslimische Länder in Asien, die demokratisch verfasst sind. Auf die Frage, ob sich arabische Staaten nicht besser durch tribale Strukturen regieren lassen als mit demokratischen, wird kein Gedanke verschwendet. Das Beispiel Irak hätte eigentlich zu denken geben müssen. Erleben wir nicht gerade in Lateinamerika eine Wiederkehr autoritär-populistischer Regime durch Wahlen? Und auch die Katholische Kirche hat eigentlich erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1965-1968) ihren Frieden mit der Demokratie, den Menschenrechten und den anderen Religionen geschlossen. Es ist schade, dass die Einleitung dem intellektuellen Anspruch der Beiträge keine Rechnung trägt. Man sollte sie schnell überblättern und zum Wesentlichen dieses hervorragenden Sammelbandes kommen.
Dazu zählt auch die Abschlussdiskussion, die einen kleinen Einblick in das gibt, was geistig geleistet werden könnte, wenn auch Vertreter anderer Glaubensrichtungen wie die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur oder ein Querdenker wie Otto Kallscheuer ausführlicher zu Wort gekommen wären. Er weist zu Recht auf die in den "christlichen" Ländern Europas am weitesten fortgeschrittene Säkularisierung hin, die just zu dem Augenblick wieder bewusst zu werden scheint, als sich Europa im Zuge seiner Integration auf seine christlichen Wurzeln zu besinnen beginnt. Vielleicht kann Europa nur auf den Grundlagen einer "europäischen Zivilreligion" erfolgreich gebaut werden, wie Kallscheuer fragt.
Katajun Amirpur bringt den Beitrag islamischer Denker wie Avicenna, Averroes und Alfarabi für die Geistesgeschichte in Erinnerung. Selbst der umstrittene Begriff der "Leitkultur" geht auf den "Kulturmuslim" Bassam Tibis zurück!
So wichtig Publikationen über Christentum und Demokratie auch sind, die politischen Realitäten Europas verlangen nach einer Horizonterweiterung. Warum fordern die Stiftungen nicht einmal den Islam heraus, öffentlich Farbe zu bekennen, wie er es mit Demokratie, Menschenrechten und seinem Verhältnis zu den anderen Religionen und den Frauen hält?
Manfred Brocker, Tine Stein (Hg.): Christentum und Demokratie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006; 251 S., 49,90 Euro.