Kann man ein Buch über eine religiös motivierte Terror-Organisation schreiben, deren Mitglieder unschuldige Menschen in die Luft sprengen, und dabei den Begriff "Terror-Organisation" nicht verwenden? Die Politologin Helga Baumgarten hält dies anscheinend für möglich, wie ihr neues Buch über die Hamas zeigt.
Das erste deutschsprachige Buch über die Hamas berücksichtigt noch die Parlamentswahlen vom Januar 2006 in Palästina, aus der die islamistische Organisation als Sieger hervorgegangen ist und seitdem die Regierung stellt. Begeistert berichtet Baumgarten, die in Ost-Jerusalem lebt und Politikwissenschaft an der palästinensischen Universität Birzeit lehrt, über die "ersten wirklich freien und demokratischen Wahlen in einem arabischen Staat". Im Mittelpunkt ihres Buches stehen jedoch die historischen und politischen Ereignisse im Nahen Osten, der arabisch-israelische Konflikt um Palästina sowie die Entstehungsgeschichte und das breite Betätigungsfeld der Hamas.
Im Dezember 1987 ging die Hamas in Gaza aus der Muslimbruderschaft unter Führung von Scheich Ahmad Yasin hervor. Wenig später begann sie ihre Aktionen gegen die Besatzungsmacht Israel mit der ersten Intifada. Auf Grund ihrer ausgezeichneten Kenntnisse und einer ausführliche Quellenanalyse, insbesondere der Hamas-Flugblätter, stellt Helga Baumgarten die Entwicklung der "religiös-nationalistischen Bewegung" dar, die als Antwort auf den "religiös-begründeten Siedler-Nationalismus in Israel" entstanden sei.
Baumgarten beschreibt, wie geschickt sich die Hamas langsam durchsetzte, schließlich wurde der anti-israelische Kampf lange Zeit unangefochten von der PLO und anderen "nationalistischen Konkurrenten" dominiert. Dabei kümmerte sich die Hamas auch um politische Aufklärungsarbeit - und von Anfang an um religiöse Erziehung, Wohltätigkeit und die Mobilisierung der palästinensischen Gesellschaft gegen die Juden. "Die Hamas ist geboren aus der Aufnahme des totalen Dschihad (...) bis zur Befreiung von ganz Palästina", zitiert die Autorin aus einem Brief an den palästinensischen Nationalrat, in dem die Islamisten zum ersten Mal ihre Ziele öffentlich bekannt machten. Der Brief endet mit einer Drohung an alle, die die jüdische Entität anerkennen, "selbst in Teilen von Palästina". Seitdem hielt die Hamas an ihrem religiös-ideologischen Kampf gegen Arafat fest. Die Nachricht war deutlich: keine Kompromisse mit den Juden.
Die Politologin weist darauf hin, dass die Hamas außerhalb der arabischen Region ausschließlich als terroristische Bewegung wahrgenommen wird, obwohl die Realität eine "sehr viel komplexere" sei. Als Belege führt Baumgarten Studien israelischer Autoren an: Sie hätten eine Entwicklung der Hamas von der Konfrontation mit der palästinensischen Nationalbehörde hin zu politischem Pragmatismus und Wettbewerb in friedlicher Koexistenz in den 90er-Jahren beobachtet.
Auch wenn Hamas Selbstmordanschläge ausschließlich im eigenen Namen durchführte, habe Israel dies nie akzeptiert und immer die palästinensische Regierung "grundsätzlich" für alle Anschläge verantwortlich gemacht, betont die Autorin weiter. Dabei vergisst sie zu erwähnen, dass die Hamas mit ihren Terrorakten bewusst die politischen Verhandlungen zwischen Arafat und Israel torpedierte und so einen dauerhaften Frieden im Rahmen der Oslo-Verträge verhinderte.
Nur schwer erträglich ist, dass in Baumgartens Buch nicht von Terroristen die Rede ist, sondern von "Kämpfern", zuweilen von "Selbstmordattentätern". Auch den Begriff Terror-Operationen sucht man vergeblich, stattdessen wird beschönigend von "großen Guerilla-Operationen", "bewaffnetem Widerstand", "militärischen Operationen", "militärischen Aktivitäten" und schließlich von "spektakulären Entführungen und Tötungen" der Hamas parliert. Gleichzeitig macht sie die Gewalttaten der israelischen Armee ursächlich für die Rache der Palästinenser verantwortlich. Dabei ging es bei den Anschlägen zumeist um brutale Selbstmordattentate in Bussen oder Diskotheken, bei denen Dutzende Zivilisten getötet und Hunderte verletzt wurden.
Obwohl sich die Autorin um einen neutralen Stil bemüht, wirkt sich ihre Sympathie für die Sache der Palästinenser negativ auf ihr Buch aus. Dies geht so weit, dass selbst die klare Terror-Erklärung der Hamas: "Jeder Soldat und jeder Siedler in Palästina wird als Angriffsziel betrachtet" unkommentiert bleibt. Umgekehrt bemerkt Baumgarten: "Für jedes Selbstmord- attentat wird die gesamte palästinensische Bevölkerung bestraft." Zwar merkt sie an, dass es für Selbstmordattentate "keine Rechtfertigung" gebe. Dies wird jedoch gleich wieder relativiert, indem sie unterstreicht, dass ebenso wenig "die Einsätze der israelischen Armee gegen die palästinensische Zivilbevölkerung gerechtfertigt" seien.
Baumgarten macht deutlich, dass die Hamas konsequent eine all-palästinensische Organisation etablierte: Inzwischen sind bis zu 40 Prozent aller sozialen Einrichtungen im Gazastreifen und im Westjordanland islamisch und werden von der Hamas kontrolliert. So können Hunderttausende beeinflusst werden. Zudem waren bis 1999 65 Prozent aller Erziehungseinrichtungen in islamischer Hand. Auf dieser Grundlage schuf die Hamas in den Jahren 2000 bis 2005 ein starkes islamisches Sozialwerk und baute gleichzeitig eine politische Bewegung auf.
Obwohl die Hamas-Regierung bislang vom Nahost-Quartett nicht anerkannt wurde, glaubt Baumgarten, dass dies nicht so bleiben wird: Die Hamas besitze die reale Macht in Palästina und sei über demokratische Wahlen politisch legitimiert. Deshalb fordert sie die Europäer auf, sich als Vermittler einzuschalten. Notfalls müsse auf den Besatzer Israel Druck ausgeübt werden, um den Konflikt zu lösen. Denn nur über ein Ende der Besatzung könne Frieden in der Region Wirklichkeit werden.
Helga Baumgarten: Hamas. Der politische Islam in Palästina. Diederichs, München 2006; 256 S., 19,95 Euro.