Eskalierte die Kriegsgewalt im Laufe der Geschichte? Diese Frage untersucht der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche in seinem Beitrag des Sammelbandes "Moderne Zeiten?". Gemeinhin wird man diese Frage spontan bejahen, denkt man nur an die zahlreichen Kriege, die im Zuge des neuzeitlichen Staatsbildungsprozesses vor allem im 19. Jahrhundert geführt wurden. Immerhin gingen fast alle neuen Nationalstaaten aus Kriegen hervor. Diese Auffassung wird insbesondere durch die gewaltigen propagandistischen Mobilisierungsstrategien und modernen Vernichtungspotenziale der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert gestützt.
Berücksicht man jedoch ausgiebig Statistiken zu Bevölkerungsanteilen, die an Kriegen teilnahmen und in ihnen getötet oder verletzt wurden, dann gab es keineswegs einen Anstieg einer Kriegsgewalt im historischen Verlauf. Im Gegenteil: Keineswegs ist die Tendenz zur totalen Mobilisierung der Bevölkerung im Krieg und die damit verknüpfte Verwischung der Gewaltgrenze zwischen Soldaten und Zivilisten ein Phänomen moderner Gesellschaften, das lehrt ein Blick auf antike wie frühmoderne Krieg.
Im 18. und mehr noch im 19. Jahrhundert bemühten sich die verantwortlichen Politiker und Militärs um eine klare Trennung: Ausgerechnet im Jahrhundert des Nationalkriegs waren Kriege ein Kampf zwischen Armeen, in den die Bevölkerung so wenig wie möglich verwickelt werden sollte. Erst im Ersten Weltkrieg wurden die Menschen von einer längst vergessenen Vergangenheit eingeholt und von der Kriegsführung, die sie selbst in den außereuropäischen Kolonien praktiziert hatten. Der "totale Krieg" des 20. Jahrhunderts war insofern eine neue Erfahrung für eine Bevölkerung, die lange nur noch den "eingehegten Krieg" erlebt hatte. Bereits im Zweiten Weltkrieg gehörte die systematische Tötung von Zivilisten zur Kampfführung aller Kriegsmächte.
Sind totalitäre Regime, in denen sich Gewaltexzesse wie in der Sowjetunion, in China oder im nationalsozialistischen Deutschland ereigneten, ein Reflex der Moderne? Mit diesem Problem befassen sich mehrere Autoren des Sammelbandes, die sich insbesondere auf Vorgänge im vor- und nachrevolutionären Russland beziehungsweise der UdSSR und im kommunistischen China konzentrieren.
Die historisch-politische Botschaft der Beiträge lässt sich - ein wenig grob - auf folgenden Nenner bringen: Die monströsen Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts vollzogen sich vor allem in "vormodernen" Räumen, auch die Mordaktionen der Nationalsozialisten fanden vorwiegend in Osteuropa statt. Allerdings bleibt der zentrale Begriff dieses Sammelwerks "Vormoderne" recht vage.
Die Brutalisierung während des russischen Bürgerkriegs interpretiert der russische Historiker Igor Narskij als Überlebensstrategie in einer Umgebung materieller Not, institutionellen Zerfalls, existenzieller Bedrohung und kultureller Desorientierung. Die Bolschewisten und ihre Gegner im Bürgerkrieg, die Weißen, schöpften aus der vormodernen Gewaltkultur der russischen und nichtrussischen Unterschichten. Die maßlosen Vernichtungspraktiken Stalins, die sich gegen alle sozialen Schichten und Bevölkerungsgruppen richteten, knüpften an die barbarischen Machttechniken des Bürgerkriegs an. Dies unterscheidet die stalinsche Politik grundsätzlich von der rassistisch motivierten Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten.
Der fachlich bestens ausgewiesene Publizist Gerd Koenen schließlich begreift die maoistische Politik als letzten gewaltsamen Akt chinesischer Nationalpolitik. Der kaum vorstellbare Terror, dem Millionen von Menschen zum Opfer fielen, diente auch der "Erziehung der Massen" und der Errichtung eines "neuen China". Dieses nur oberflächlich marxistisch legitimierte Programm stützte sich auf die ökonomisch rückständigen ländlichen Gebiete und zielte weniger auf eine sozialistische Agrarrevolution, sondern auf eine nationale Revolution, in der alle feindlichen Kräfte unbarmherzig eliminiert werden müssten. Die chinesische Revolution deutet Koenen nicht als Produkt einer von Moskau ausgehenden Weltrevolution. Mao Tse-tung hat vielmehr erfolgreich alle sowjetischen Einmischungsversuche zurückgewiesen und eine "vormoderne" nationalistische Reichseinigungspolitik betrieben.
Jörg Baberowski (Hrsg.): Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006; 205 S., 26,90 Euro.