Veröffentlichungen über die potemkinschen Dörfer der russischen Schein-Demokratie sind nichts Neues. So erschien im September 2003 in der "Zeit" Johannes Voswinkels lesenswerter Artikel "Demokratur, putinesisch" über die Verfassungswirklichkeit in Russland. Diese Überschrift gefiel Boris Reitschuster offenbar so gut, dass der Moskauer Kor-respondent des Nachrichtenmagazins "Focus" seinem aktuellen Buch den Titel "Putins Demokratur" gab. Damit führt der Autor seine Putinografie fort, die er vor zwei Jahren mit einer hervorragenden Biografie über den russischen Präsidenten begonnen hatte. Offenbar wollte der Autor keine zwei weiteren Jahre bis zum Ende der zweiten Amtszeit Putins warten, um ein chronologisch geschlossenes Werk über die gesamte Ära seiner Präsidentschaft vorzulegen.
Dass Russland dem Autor am Herzen liegt, bleibt dem Leser nicht verborgen. Er will die Unterdrü-ckung der Demokratie in Russland nicht tot schweigen. Immerhin gehört Reitschuster zu den wenigen ausländischen Stimmen, die zurzeit noch frank und frei berichten können. Schon mit dem Titel seines Buches signalisiert der seit sieben Jahren in Moskau lebende Journalist, dass er eine ganz andere Meinung über Wladimir Putins Regierungssystem hat als der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dieser hatte sich nicht gescheut, seinen Freund Wladimir als "lupenreinen Demokraten" zu bezeichnen.
In seinem Buch tritt Reitschuster als Anwalt der einfachen Menschen auf, die Russland "so liebenswert machen" und die am meisten unter bürokratischer Willkür und Ungerechtigkeit zu leiden haben. Die Motive des Autors sind ehrenhaft, schließlich wünscht er sich Russland als einen friedliebenden und demokratischen Rechtsstaat mit mündigen Bürgern anstatt mit Untertanen. Scharf kritisiert Reitschuster die Putinsche "Vertikale der Macht", die das Land mittels einer "gelenkten Demokratie" in eine bessere Zukunft führen will. Tatsächlich sei Russlands Demokratie gescheitert.
Der Journalist listet zahllose Beispiele auf, die zeigen, wie unter der Herrschaft Präsident Putins und seiner aus dem KGB hervorgegangenen Kamarilla ein "Bolschewismus im Schafspelz" installiert wurde. Dabei ist der Autor davon überzeugt, dass der autoritäre Kurs Moskaus und "die Rückkehr zu den Methoden der Vergangenheit enorme Gefahren für Deutschland und die anderen europäischen Staaten" mit sich bringe. Neben der brutalen Kaukasus-Politik des Kremls gehört dazu sicherlich auch die mittelfristige Gefahr eines Auseinanderbrechens des riesigen Reiches. Weiterer Risikofaktor speziell für Deutschland sei die russische Verbrecherwelt, die ihre Position hier zu Lande immer stärker ausbauen würde.
Wer ist verantwortlich für diese Entwicklung? Bereits unter der Präsidentschaft Boris Jelzins wurde die russische demokratische Revolution verraten. Als diese "Demokraten" im Westen bejubelt wurden, hatten sie das Land längst untereinander aufgeteilt und so die Staatsform der Demokratie diskreditiert. Die Jelzin-Herrschaft und die sie umgebenden Oligarchen hatten den russischen Staat in einen Zerfallsprozess getrieben, als Wladimir Putin und sein politisches Umfeld einen Prozess der Konsolidierung initiierten und das Land so stabilisierten. Dies bedeutete jedoch gleichzeitig das Ende der demokratischen Entwicklung, denn der Staat wurde auf ein autoritäres politisches Regime umgestellt.
Allerdings hat die im Westen scharf kritisierte Verhaftung des Öl-Oligarchen Michail Chodorkowskij, der als Putin-Kritiker Erwähnung findet, mit der Unterdrückung der Demokratie in Russland nichts zu tun, auch wenn der ansonsten gut informierte "Focus"-Journalist diese Meinung vertritt. Dabei erwähnt er selbst die Machenschaften der Oligarchen, die in den ersten Jahren der Privatisierung nur ausnahmsweise gesetzestreu handelten. So weiß der Autor zu berichten, dass die Oligarchen auf ihrem Weg nach ganz oben vor Auftragsmorden nicht zurückschreckten. Dabei trübt Reitschusters subjektive Einstellung gegenüber dem Präsidenten seine Sicht auf die tatsächlichen Vorgänge im Land. Wenn ein russischer Politiker zu den Gegnern Putins gezählt werden kann, gehört er schon zu den "Guten", wie Ex-Ministerpräsident Michail Kassjanow, der zurzeit im Westen als "demokratische Opposition" aufgebaut wird.
Dass es mit der Demokratie in Russland nicht weit her ist, zeigen eindrucksvoll die Schilderungen des Autors über das russische Parlament, die unterdrückte politische Opposition und die vom Staat kontrollierten Medien. Die fehlende Pressefreiheit belegen die Fußnoten: Die häufigen Hinweise auf Veröffentlichungen in deutschen Zeitungen beweisen, dass hier zu Lande mehr über die politisch bedeutsamen Vorgänge in Russland berichtet wurde als vor Ort. Ansonsten würde der Leser kaum etwas über die (Un-)Taten von Putins Freunden erfahren, da die russischen Medien darüber nicht frei informieren können.
Der Autor betont, dass Russlands Energiepolitik gegenüber der Europäischen Union den Beginn einer neuen Konfrontation darstellt, dieses Mal nicht mit Raketen, sondern mit Öl und Gas. Allerdings übertreibt er hier. Auch hat der Kreml kein Interesse daran, sich offen als NATO-Gegner zu positionieren. Kurz: Über viele Schlussfolgerungen des Autors mit Blick auf die internationale Politik muss man streiten. Das trifft jedoch nicht auf die dramatische innenpolitische Entwicklung zu.
Insgesamt hat Boris Reitschuster eine emotional gefärbte Abrechnung mit dem Regime Wladimir Putins vorgelegt. Es handelt sich um den lesenswerten Bericht einer westlichen Stimme aus Moskau, die die Realität im Land ungeschminkt darstellt.
Boris Reitschuster: Putins Demokratur. Wie der Kreml den Westen das Fürchten lehrt. Econ Verlag, Berlin 2006; 333 S., 19,95 Euro.