Wenn die Adelskultur in den Weltgebrauch solche Barbarismen hineingetragen hat wie Zar, Pogrom und Nagajka, so hat der Oktober (die Revolution 1917) solche Worte international gemacht wie Bolschewik, Sowjet und Pjatiletka (Fünfjahrplan). Das allein rechtfertigt die proletarische Revolution." Mit diesen Worten beurteilte Leo Trotzki die Russische Revolution. Folgt man den Ausführungen des Marburger Professors für Osteuropäische Geschichte Stefan Plaggenborg, dann ließe sich das gescheiterte sowjetische "Experiment Moderne" mit den Begriffen Gulag, Großer Vaterländischer Krieg, Sputnik oder Tschernobyl charakterisieren.
Die vorliegende Monografie thematisiert das bolschewistische Experiment unter dem sperrigen Begriff der Moderne. Wenn insbesondere in der westlichen Soziologie von Moderne in Bezug auf Europa die Rede war, machte die Forschung zumeist an den vom Kalten Krieg gezogenen Grenzen Halt und sparte Osteuropa und die UdSSR in ihren Analysen aus. Deshalb versucht Plaggenborg, den über 300 Jahre alten Diskurs über den Gehalt der Moderne an die geschichtlichen Ereignisse zurückzubinden und auf die Entwürfe der bolschewistischen Utopie sowie die Umsetzung ihrer Modernisierungsideologie zu beziehen.
Plaggenborg wählt einen problemorientierten Zugriff, der auf einen ereignisgeschichtlichen roten Faden verzichtet. Allerdings ist den Überschriften - wie beispielsweise "Revolutionär im U-Boot" - der sieben Kapitel nur bedingt zu entnehmen, was sie thematisieren. Der erste Teil behandelt die große Zäsur der Revolution von 1917 mit ihrem fundamentalen Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur. Für weite Teile der Bevölkerung brachten sie und der bis 1921 währende Bürgerkrieg Gewalt, Elend und Tod. Der zweite Teil behandelt das bolschewistische Programm und seine ideologischen Grundlagen, der dritte den Wandel des Zeitverständnisses, die sowjetische Geschichtswissenschaft und deren Geschichtsverständnis. Das zentrale vierte Kapitel ist den Aspekten von Gewalt und Terror gewidmet, das fünfte thematisiert den starken Staat, seinen Wandel zum Wohlfahrtsstaat unter den Parteichefs Chruschtschow und Breschnew sowie sein ambivalentes Verhältnis zur Bevölkerung. Das sechste Kapitel behandelt Multiethnizität, Krieg, Außenpolitik und das sozialistische Weltsystem. Das letzte fasst zusammen und schließt den Kreis zu den einleitend formulierten Problemen der Moderne.
Zu kritisieren ist die oft theorielastige Darstellung. Darunter leidet die Lektüre; denn die Sprache ist komplex, bisweilen prätentiös. Auch steht der beträchtliche methodologische und theoretische Aufwand in keinem guten Verhältnis zu den Resultaten, die nicht immer neu sind.
Zu den unbestreitbaren Vorzügen des Werks zählen die Ausführungen zur Gewalt sowie zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft, für die der Autor durch vorherige Publikationen als unbestreitbarer Fachmann zu gelten hat. Die Darstellung der für die materialistische Geschichtsphilosophie bedeutsamen Kritik Bogdanovs ist brillant. Diese erkenntnis-theoretischen Ausführungen gehen weit über den Synthesecharakter der Monografie hinaus.
Stefan Plaggenborg: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg. Campus Verlag, Frankfurt/Main. 2006; 401 S., 39,90 Euro.