Die Globalisierung ist in Indien eine Fortsetzung des alten Kolonialismus: Das ist die Hauptthese des Buches "Zwischen Verzweiflung und Widerstand". Der Autor Gerhard Klas ist Journalist, Indien-Korrespondent und Globalisierungskritiker. In seinem Buch stellt er in ausführlichen Interviews indische Stimmen gegen die Globalisierung vor.
In allen Teilen der Welt ist die wirtschaftliche Vernetzung mit gesellschaftlichen, kulturellen und ökologischen Folgewirkungen spürbar. Die Globalisierung als weltweit zunehmende Verflechtung von Menschen, Gütern, Informationen und Kapital findet in Indien ein geteiltes Echo. Von den Kritikern, die in diesem Buch zu Wort kommen, wird diese Entwicklung als eine neue Kolonialisierung der Entwicklungsländer betrachtet. "Heute dürfen wir vielleicht unsere politische Unabhängigkeit bewahren, aber wirtschaftlich werden wir zu Kolonien der entwickelten kapitalistischen Länder gemacht", meint ein indischer Inter- viewpartner.
Mehr als sechs Prozent Wachstum in den kommenden Jahren prognostizieren Wirtschaftswissenschaftler für Indien. Besonders in der Softwareindustrie und im Dienstleistungssektor entstehen neue Arbeitsplätze. Dort arbeiten die rund 200 Millionen Konsumenten, die sich am Lebensstandard des Westens orientieren. Erwartungsfrohe Exporteure in den USA, Europa und Asien sehen neue Absatzmärkte für Autos, Versicherungen und Luxusgüter. Internationale Investoren versprechen sich Kostenvorteile von Steuervergünstigungen, von billigen aber qualifizierten Arbeitskräften, von niedrigen Umwelt- und Sozialstandards und verlagern deshalb ganze Produktionsstandorte nach Indien.
Inseln des Wohlstandes sind erkennbar: Die Vorstädte von Millionenmetropolen, zum Beispiel von Neu Delhi, Haiderabad oder Bangalore, gelten als Wahrzeichen des aufstrebenden Indiens. Diese Orte symbolisieren aber gleichzeitig die Zerrissenheit der indischen Gesellschaft: Auf der einen Seite Konsumtempel für die neue Mittelschicht, auf der anderen Seite bittere Armut. Der Graben zwischen Arm und Reich wird tiefer, betont der Autor, denn das Wirtschaftswachstum wird nicht mit Verteilungsgerechtigkeit gekoppelt. Während sich die gehobene Mittelschicht und die Oberschicht als Teil der internationalen, globalen Elite empfinden, wächst in den Slums der Großstädte und besonders unter der Landbevölkerung der Ummut über die jüngsten Entwicklungen.
Der Mehrheit des Milliardenvolkes bleibt die Rolle des globalen Müllentsorgers, zum Beispiel von Asbest-Schiffen, die Hilfsarbeiter ohne Schutzkleidung an der indischen Westküste abwracken, oder von Elektroschrott, ausgedienten Computern, Bildschirmen und Mobiltelefonen, die aus den USA, Japan oder der EU nach Indien verfrachtet werden.
In diesem Buch kommen Vertreter von Gewerkschaften, Oppositionsgruppen und linken Parteien zu Wort. In den Interviews berichten sie von den Entwicklungen der vergangenen 15 Jahre, analysieren die Hintergründe, sind sich einig in der Kritik der neoliberalen Entwicklung in Indien, unterscheiden sich aber in ihren Vorstellungen, welcher Weg zu einer solidarischen Gesellschaft führt.
Der Autor stellt fest: Wir brauchen nicht die Globalisierung von Materialien, von Geld und Markt. Wir brauchen eine Globalisierung ganz anderer Art, die menschlichen Werten, Kooperation, gegenseitigem Respekt der verschiedenen Kulturen eine hohe Bedeutung beimisst. Menschen sollen zusammenkommen, sich kennen und verstehen lernen, miteinander kooperieren, so dass sich das Leben für alle verbessert - nicht nach den Maßstäben der Marktwirtschaft, sondern gemäß der Werte Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden.
Fazit: Das Buch ist keine ausgewogene Darstellung der Pro- und Contra-Argumente zum Thema Globalisierung, sondern schildert - einseitig aber prägnant - ausgewählte Beispiele aus der Sicht der Globalisierungskritiker.
Gerhard Klas: Zwischen Verzweiflung und Widerstand. Indische Stimmen gegen die Globalisierung. Edition Nautilus, Hamburg 2006, 155 S., 12,90 Euro.