Shashi Tharoor hat sich wahrlich keine leichte Aufgabe gestellt, als er ausgerechnet eine Biografie über Jawaharlal Nehru (1889-1964) verfasste. Nehru, Indiens erster Premierminister nach der Unabhängigkeit, war die zentrale politische Figur des Landes im vergangenen Jahrhundert und ist noch heute eine Art Übervater. Er definierte die Grundlagen der indischen Demokratie und wesentlicher Teile der nationalen Identität, er bestimmte die außenpolitische Ausrichtung seines Landes, die zum Vorbild für viele Entwicklungsländer wurde. Dennoch steht Nehru noch immer im Schatten seines Weggefährten Mahatma Gandhi. Und schlimmer noch: In den vergangenen Jahren ist es geradezu schick geworden, am Denkmal Nehru zu kratzen. Denn es war die Überwindung seiner sozialistischen Wirtschaftspolitik, die zum gegenwärtigen Wirtschaftswunder Indiens geführt hat.
Tharoor macht kein Geheimnis daraus, was sein Buch ist: Schon im Vorwort spricht er von seiner "Hochachtung" gegenüber der Person und dem Wirken Nehrus. Vielleicht nicht die beste Herangehensweise an eine Biografie. So fehlt vor allem in den ersten der streng chronologisch geordneten Kapitel neben der beschreibenden die analytische Ebene. Auch die von Tharoor angekündigte "neue Interpretation eines außergewöhnlichen Lebens" bleibt weitgehend aus. Dennoch lohnt es sich, das Buch zu lesen - und das hat zwei Gründe. Der eine ist Nehru, der andere Shashi Tharoor selbst.
Dem Autor gelingt es, das Leben von Nehru nachzuzeichnen und sich dabei aufs Wesentliche zu konzentrieren. Er folgt den Spuren des Mannes, der auch Pandit genannt wurde, weil er kaschmirischer Hindu war, und beleuchtet dabei vor allem seine Beziehungen zu den beiden prägenden politischen Personen seines Lebens: zu seinem Vater, ein gut situierter, englisch beeinflusster Rechtsanwalts und später führendes Mitglied der Kongresspartei, und zu Gandhi, mit dem er das Ziel, die Emanzipation von der britischen Herrschaft, teilte. Die wichtigen Frauen in Nehrus Leben - seine Mutter, seine Frau, seine Tochter Indira, die spätere Nachfolgerin im Amt des Premiers - und selbst die ihm nachgesagten zahlreichen Liebschaften handelt er relativ kurz ab. Auf schmückende Details und Exkurse verzichtet Tharoor generell; dafür geht er intensiv auf die langen Gefängnisstrafen Nehrus zu Kolonialzeiten ein und die Entwicklungen und Streitigkeiten innerhalb der Kongresspartei. Dem Autor geht es um den Politiker Nehru, weniger um den Menschen.
Um so mehr treibt ihn die Frage um, welcher politischen Philosophie, sprich welcher Form von Sozialismus, Nehru anhing. Tharoor vermeidet dabei eine klare Festlegung, und ordnet den ersten indischen Premier zwischen verschiedenen Polen seiner Zeit ein. Überhaupt sei Nehru in seinem ganzen Wesen "eine sonderbare Mischung aus einem idealistischen Intellektuellen und einem Mann der Tat" gewesen, sein Leben sei von den Gegensätzen "von Überzeugung und Kompromiss" geprägt gewesen.
An anderer Stelle bezeichnet er ihn als den "großen Moralisten in der internationalen Politik", der anders als viele andere Staatsmänner postkolonialer Länder nie der Versuchung erlegen sei, sein hohes Ansehen innerhalb der Bevölkerung zu nutzen, um die Demokratie auszuhöhlen und ein autokratisches oder gar diktatorisches Regime zu installieren. Und Tharoor geht noch einen Schritt weiter: Nehru habe die indische Nation entworfen "mit der Kraft seiner Ideen, ganz ähnlich, wie es Thomas Jefferson in den Vereinigten Staaten tat". Viel mehr Lob - innen- und außenpolitisch - kann man einem Politiker kaum aussprechen. Wäre da nicht Nehrus staatszentrierte Wirtschaftspolitik gewesen, die Tharoor in einem ausgewogenen analytischen Schlusskapitel zumindest ansatzweise kritisiert, dann wäre Nehru der Idealtypus eines Politikers.
So viel Lob kann langweilen und ermüden. Es kann jedoch auch aufschlussreich sein. Als Shashi Tharoor, der 1956 in London geboren wurde, in Indien studierte und seit 1978 für die UNO arbeitet, 2003 diese Biografie schrieb, war er Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der UNO. Ende Juni dieses Jahres hat Indien den UN-Untergeneralsekretär offiziell als Nach- folger von Generalsekratär Kofi Annan vorgeschlagen. Annans Amtszeit läuft Ende dieses Jahres aus. Vor diesem Hintergrund lässt sich Tharoors Nehru-Biografie natürlich auch anders lesen - als kleines politisches Programm und moralische Messlatte für Politiker, insbesondere der Schwellen- und Entwicklungsländer.
Debattieren ließe sich vor diesem Hintergrund zudem über eine zentrale Frage: die der Nationen- und Staatenbildung. Tharoor beschreibt und lobt die "Erfindung Indiens" durch Nehru, also die Konstruktion der nationalen Identität der Inder etwa seit den 1920er-Jahren. Diese Identität, so der Erfinder, basiere eben nicht auf Blut und schon gar nicht auf Religion, sondern auf der langen pluralistischen Geschichte und eigenen, vielschichtigen Kultur. Sie wäre einfach schon immer da gewesen. Nehrus Vision von Indien habe den Streit um die nationale Identität entschärft, schreibt Tharoor, weil diese Vision den Streit "einfach umging". "Nehru vertrat die Ansicht, die Einheit Indiens sei jedem Außenstehenden ohne weiteres deutlich": Jeder Inder würde zuerst als Inder wahrgenommen und nicht als Christ, Moslem oder Hindu. Ein Plädoyer für das Recht von Gemeinschaften, sich als Nation zu begreifen - und zugleich ein Plädoyer für eine toleranten Nationenbegriff.
Shashi Tharoor: Die Erfindung Indiens. Das Leben des Pandit Nehru. Insel Verlag, Frankfurt/Main 2006; 19,80 Euro.