Neuseeland ist der Inbegriff für freies Leben und Wohlstand in einem faszinierenden Naturparadies. Die Berliner Autorin und Filmemacherin Freya Klier trug sich länger schon mit der Filmidee über die ersten deutschen Auswanderer dort. Dass sie dieses Thema spontan zurückstellte, lag an einem zufälligen Gespräch während einer ihrer Recherchereisen: Mehr als 40 Jahren hätten sie darauf gewartet, dass jemand nach ihren Geschichten frage. Dieser Satz einer alten Dame, der nach Neuseeland ausgewanderten Jüdin Dorothea Eisig, ließ sie nicht mehr los.
Vier Jahre recherchierte Freya Klier zwei Dutzend fast ins Vergessen geschobene Schicksale jüdischer Immigranten vom anderen Ende der Welt. Darunter die des jüdischen Ehepaares Heinz und Dorothea Eisig. Als Leichtathlet wegen seiner Herkunft von der Olympiade 1936 ausgegrenzt, beschloss er angesichts der wachsenden Judenfeindlichkeit in Deutschland, nach Neuseeland auszuwandern. Dort wurde ihm eine der abgelegenen, im Zuge der Weltwirtschaftskrise aufgegebenen Farmen zugewiesen. Bevor sich 1939 die Festung Europa schloss, gelang es ihm in letzter Minute, seine künftige Frau Dorothea nachzuholen. Damit gehörten sie zu den glücklichen 727 Deutschen, die seit 1936 eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hatten. Der Versuch, die Eltern nachkommen zu lassen, scheiterte am Einwanderungsverbot für jeden über 50. Die neuseeländische Einreisepolitik unterschied sich kaum von der Blockadehaltung anderer Staaten.
Wie schon in früheren Büchern benutzt Klier auch hier Stilmittel der Reportage und Zeitzeugenberichte, eingebettet in die Zusammenhänge der Zeitgeschichte.
"Gelobtes Neuseeland" erzählt Lebensgeschichten von Davongekommenen, und es zeigt die Risse und Tragödien in jüdischen Familien in der Zeit deutschen Rassenwahns. In der Chronologie der Jahre 1930 bis 1948 markiert die Autorin wichtige Zäsuren in der Weltgeschichte von Goebbels Boykottaufruf "Kauft nicht beim Juden!" bis zur Selektionsrampe von Auschwitz, von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler bis zu den Resultaten der alliierten Offensive. Zugleich bietet sie Einblicke in die Entwicklungen im fernen Neuseeland einschließlich der japanischen Bedrohung und der Stationierung amerikanischer Truppen, sie schildert den Wirtschaftsaufschwung und ebenso plastisch die scharfe Sicherheitsdoktrin gegenüber allen "Enemy Aliens", zu denen auch eingewanderte Juden zählten. Und immer verschränkt sie die große Geschichte mit individuellen Schicksalen und Lebenswegen. Hier kommt der Wahnwitz des 20. Jahrhunderts hautnah zum Ausdruck.
Da erhält der junge Breslauer Ernst Neuländer 1936 ein von Mussolini gestiftetes Stipendium für junge Juden. Die Bedingung: Eintritt in die italienische faschistische Partei. Mit seiner Frau Herta, einer Sängerin, wandert er später nach Palästina und wegen der Unruhen zwischen Arabern und Juden weiter nach Neuseeland aus, wo er - eine seltene Ausnahme - in die Army aufgenommen wird. Zwei der schockierendsten Schicksale erzählen die nach Auschwitz deportierten Geschwister Hansi und Fred Silberstein. Während die Schwester Hansi als Zahnarztschreiberin Typhus, Lagerauflösung und Todesmarsch überlebt, übersteht ihr Bruder Mengeles bestialische Menschenversuche nur wie durch ein Wunder. Selbst in Neuseeland können sie Jahrzehnte nicht über diese Hölle sprechen. Von ihren Kindern nach der in den Arm tätowierten Nummer gefragt, sagt die Mutter: Das sei ihre Telefonnummer, die sie sich so besser merken könne.
Freya Klier erzählt Lebensgeschichten erfolgreicher Farmerfamilien und Geschäftsleute, aber auch von einfachen Arbeitern, die vor allem eins gemein haben: lebenslang möglicht weiten Abstand von Deutschland zu wahren. Und sie erzählt die Geschichte des Dichterhünen Karl Wolfskehl, der noch Franz Kafka und Thomas Mann kannte, der am Tag des Reichstagsbrandes Deutschland verließ. Als "exul poeta" zunehmend vergessen, verbittert und vereinsamt, wurde ihm Neuseeland zum "Thule der Antarktis". Ganz anders der 1937 aus Wien emigrierte Karl Popper. Mit seinem Standardwerk "Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde", seiner Abrechnung mit Hitler und Stalin, schuf er während seiner Exildozentur an der Universität in Christchurch die Grundlage seines späteren Rufes eines Philosophen von Weltrang.
In jeder dieser am anderen Ende der Welt aufgespürten Lebensgeschichten wird die ungeheuere Verbrechensspur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts fassbar. Das ist die eigentliche Leistung dieses Buches.
Freya Klier: Gelobtes Neuseeland. Fluchten bis ans Ende der Welt. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2006; 424 S., 9,95 Euro.