Militärs haben nach 1945 an dem Mythos mitgewirkt, mit Hitler habe ein größenwahnsinniger militärischer Dilettant ein höchst leistungsfähiges, aber politisch naives deutsches Offi- zierskorps ebenso wie ein ganzes Volk gegen seinen Willen in den Krieg und dann in die Katastrophe geführt. Diesen Mythos, der inzwischen freilich längst widerlegt ist, hat der amerikanische Historiker Geoffrey P. Megargee in seiner im Jahr 2000 in den USA erschienenen Dissertation endgültig als das entlarvt, was er von Anfang an gewesen ist: der durchsichtige Versuch, sich nachträglich von der aktiven und loyalen Zusammenarbeit mit der politischen Führung bis zuletzt zu entlasten. Das Buch ist in engem Kontakt mit Experten des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam entstanden und beruht auf einer umsichtigen Auswertung des deutschen und angelsächsischen militärhistorischen Schrifttums.
Eine neue Deutung des Zweiten Weltkrieges strebt der Autor ausdrücklich nicht an. Der Fachmann wird viel längst Bekanntes entdecken. Doch die konzentrierte und kompetente Zusammenfassung bisher relativ verstreuter Informationen macht dieses Buch für den historisch interessierten Laien ebenso zu einem Gewinn wie seine flüssige Lesbarkeit. Wenn der Autor hier die Schuldverstrickung der Wehrmacht in die Verbrechen des Regimes ausdrücklich ausklammert, so kann er auf sein jüngst erschienenes Werk "War of Annihilation: Combat and Genozide on the Eastern Front, 1941" verweisen.
"So bleibt Hitler", resümiert der Verfasser, "zwar die zentrale Figur in der Geschichte des deutschen Oberkommandos, aber wir können ihn nun in den richtigen Zusammenhang stellen: ins Zentrum eines fehlerhaften Systems, das ihn nahezu bedingungslos unterstützte." Dieses spannungsgeladene "fehlerhafte Sys- tem", das militärische Oberkommando als Gegenstand der Untersuchung, setzte sich zusammen aus Hitler und seinen Beratern, dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und dem Oberkommando des Heeres (OKH) mit dem Heeresgeneralstab. Sein analysierter Wirkungsbereich ist überwiegend der Russlandkrieg. Leider bleiben die beiden anderen Wehrmachtteile mit ihren Stäben, Marine und Luftwaffe, so gut wie ausgeklammert.
Der Verfasser vermittelt für die Vorkriegs- und die Kriegszeit eine detaillierte und quellennahe Binnensicht des Oberkommandos, seiner Organisationsstrukturen, seiner Arbeitsweise, seiner Entscheidungsprozesse, seiner Informationsflüsse und -verarbeitung, der Mentalitäten, ideologischen Ausrichtung und Feindbilder seiner Verantwortlichen. Es ist eine gelungene Synthese von individuellen Persönlichkeitsprofilen in der Führung der Wehrmacht und einer Analyse ihrer strukturellen Handlungsbedingungen. Eingehend listet der Autor die grundsätzlichen Mängel im Oberkommando auf, die sich mit dem Fortgang des Krieges und einer Verschlechterung der militärischen Lage immer bedrohlicher auswirkten. "Je schlimmer die militärische Lage wurde, desto weniger war das Oberkommando imstande, mit ihr fertig zu werden."
Megargee zerstört einen weiteren Mythos: Es gab keine monolithische Führungsstruktur, stattdessen ein Chaos lähmender Rivalitäten sowohl zwischen OKW und OKH als auch zwischen den einzelnen Wehrmachtteilen, einen eklatanten Mangel an gegenseitiger Abstimmung und Koordination der Planungen und dann vor allem in den letzten Kriegsjahren Hitlers selbstherrliche operative Zugriffe bis auf die Divisionsebene hinunter, die jede funktionale Befehlskette zerstörten. Schon im Mai 1938 warnte der Generalstabschef Beck, bleibe "die jetzige Anarchie als Dauerzustand, so kann man das weitere Schicksal Deutsch- lands in einem künftigen Kriege nur in den schwärzesten Farben sehen". "Unsere Kriegsspitzengliederung während des Zweiten Weltkrieges", mokierte sich Stauffenberg im Dezember 1942, "ist noch blöder, als die befähigsten Generalstabsoffiziere sie erfinden könnten, wenn sie den Auftrag bekämen, die unsinnigste Kriegsspitzengliederung zu erfinden".
Kriegsentscheidend sollte sich die Realitätsverweigerung im Oberkommando bei den drei zentralen strategischen Entscheidungen des Krieges auswirken: beim Angriff auf Polen mit dem sofortigen Kriegseintritt Frankreichs und Großbritanniens, beim Überfall auf die Sowjetunion, ohne dass im Westen die Entscheidung gefallen war, und bei der Kriegserklärung an die USA. Ein sorgfältiges und realistisches Abwägen der weit gespannten strategischen Ziele auf der einen und der begrenzten personellen und materiellen Ressourcen auf der anderen Seite fand, wie der Autor nachweist, im Oberkommando ebenso wenig statt wie eine angemessene Verarbeitung auch unbequemer Nachrichten über die weit unterschätzten Kraftreserven der Sowjetunion, die so gar nicht in das liebgewordene Klischee vom "Koloss auf tönernen Füßen" passten.
Man legt dieses Buch mit Beklemmung aus der Hand. Hitler als selbstherrlichen Glücksritter zu isolieren, mochte nach 1945 in die allgemeine Flucht aus der persönlichen Verantwortung passen, greift aber viel zu kurz. Der amerikanische Historiker zeigt noch einmal eindringlich, wie seine Generale loyal und oft in vorauseilendem Gehorsam einen Krieg vorbereitet und geführt haben, der strategisch von Anfang an ein Vabanquespiel gewesen ist.
Geoffrey P. Megargee: Hitler und die Generäle. Das Ringen um die Führung der Wehrmacht 1933-1945. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006; 348 S., 34,90 Euro.