Im Frühjahr 1990 stand ich mit einigen Freunden und mehreren Säcken Lupinensamen auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen den Berliner Bezirken Pankow (Ost) und Wedding (West). Der Grafiker und Maler Manfred Butzmann hatte die Idee, dieses Gelände zu bepflanzen, um vom Flugzeug aus die einstige Grenze zwischen den Systemen als ein gelbes Band wahrzunehmen. Die Mauer stand noch, aber die Grenzoffiziere schlossen uns die Zugangstore auf, damit wir unser Werk beginnen konnten. Es war am Ende des "kurzen Winters der Genies", und alles schien möglich. Firmen hatten Geld für den Lupinensamen gesponsert, den jedoch bald der Wind verwehte. Der durch Pestizide vergiftete Boden ließ nichts wachsen. Wenige Monate später war die Mauer in Berlin bis auf einige Reste weg und zermahlen.
Heute zieht sich durch das Gelände ein Radweg aus Beton, auf dem einst die Postentrabis der Grenzer unterwegs waren. Ein großer Teil des Gebietes ist von Sträuchern und Birken überwachsen. Demonstranten der Vergesslichkeit.
"Geteilte Ansichten" hat Maren Ullrich ihre Dokumentation zum "Umgang mit der deutsch-deutschen Grenze" genannt. Ein Titel, der Raum lässt zur Definition. Denn geteilt sind die Ansichten zur deutsch-deutschen Grenze mehr denn je. Laut einer Umfrage wünschen sich jeder vierte Westdeutsche und jeder fünfte Ostdeutsche Mauer und Stacheldraht zurück, an denen hunderte Menschen bei Fluchtversuchen sowie einige Grenzwächter verbluteten. Ein ziemlich deprimierender Sachstand.
Die Autorin teilt ihre Beschreibung der Grenze in die Zeit von 1945 bis 1989 sowie die Zeit danach. Dabei beschreibt sie vor allem die Gedenkzeichen an die brutale Teilung in Denkmälern, Bauwerken und Fotografien als unterschiedliche Deutungsmuster in Ost und West. So entsteht eine Chronologie der dauerhaften Spaltung an dieser europäischen Nahtstelle des Kalten Krieges.
Während anfangs die westlichen Besatzungszonen von der sowjetischen nur durch einen geharkten Grenzstreifen getrennt waren, kamen 1952 der Stacheldraht hinzu und nach dem 13. August 1961 die mehrfachen Zaunsysteme, Mauern, Minenfelder und Selbstschussanlagen, das Ganze garniert von Scheinwerfern, Alarmanlagen und der so genannten Fünf-Kilometer-Zone, die nur mit einem Passierschein betreten werden durfte. Besonders pervers zeigte sich das Grenzregime in dem Elbdorf Rüterberg (Kreis Ludwigslust), das zu DDR-Zeiten auf allen vier Seiten umzäunt war und das die Bewohner nur durch ein bewachtes Tor betreten und verlassen durften, das abends verschlossen wurde. Die Geschichte dieses Hühnerstalls für Menschen ist heute auf verblichenen Texten in verfallenden Schaukästen zu lesen. Das Interesse der Einwohner, die 1989 die "Dorfrepublik Rüterberg" gründeten, an der eigenen Geschichte scheint gering zu sein.
In ihrem doch recht nüchternen und sprachlich spröden Buch - eine typische Dissertationsschrift, die im März 2006 an der Uni Oldenburg erschien - bietet Maren Ullrich zahlreiche Beispiele für den unterschiedlichen Blick auf dieses Monstrum zwischen Lübecker Bucht und Vogtland. Sie zeigt dafür Fotografien wie die Aussichtsplattform bei Harpe in Niedersachsen, wo westdeutsche Besucher einen Blick auf den Osten werfen konnten, der sich vermutlich von demjenigen der DDR-Grenzer auf dem gegenüberstehenden Beobachtungsturm unterschied.
Maren Ullrich beschreibt den westdeutschen Blick als "politisch-frustriert, erleichtert, verachtend oder sensationslüstern". Welche Auswüchse heute, 17 Jahre nach dem Verschwinden der Grenze, die Sucht nach "Authentizität" hat, beweist die Autorin am Beispiel des amerikanischen Beobachtungsturms direkt an der hessisch-thüringischen Demarkationslinie. Dort gibt es in einem Museum mit Dokumentationen und Kunstwerken auch einen holzgeschnitzten Schäferhund, der die Besucher wohl das Gruseln lehren soll.
Kritisch untersucht die Autorin jene Inszenierungen der Erinnerung, der zufolge "die Menschen in der DDR ausschließlich unter der Teilung gelitten haben, während die Menschen in Westdeutschland aus-schließlich für die Einheit gekämpft und die Hoffnung auf die deutsche Wiedervereinigung nie aufgegeben haben. Diese einseitige Konstruktion der historischen Deutungs- und Wahrnehmungsmuster vernachlässigt, dass sich mehrere Generationen in Ost und West mit den Gegebenheiten angesichts der deutschen Zweistaatlichkeit arrangiert hatten (...) Die verbreitete Haltung der Westdeutschen zur Grenze, deren Status quo zunehmend als unveränderlich wahrgenommen wurde, war Gleichgültigkeit und Desinteresse."
Ullrichs Arbeit belegt durch zahlreiche Beispiele, dass die ehemalige Grenze "lebt". Auch da, wo sie nicht mehr sichtbar ist. Gerade da. Nach anfänglicher Euphorie haben sich die Bewohner der einstigen Grenzgebiete in Ost wie West wieder weitgehend auf ihr vertrautes Terrain zurückgezogen. Alltag und Normalität entwickeln sich nur zögerlich. Es braucht der musealen Rekonstruktion einstiger Sperranlagen nicht, um den tiefen Schnitt sichtbar zu machen, der Deutschland durchzieht. Dafür reicht in diesem Land mit seinen vielfältigen Dialekten, seinen farbigen Bräuchen und seiner gebrochenen Geschichte, seiner beiden Religionen die Definitionsplattitüde Ossiwessi.
Maren Ullrich bietet dafür ein prägnantes Beispiel aus einer historisch tief verbundenen Region, dem katholischen Eichsfeld. Das Untereichsfeld war nach dem Krieg britische, das Obereichsfeld sowjetische Besatzungszone. "Wenngleich der Katholizismus die Mentalität der Eichsfelder bis heute prägt, scheint das gemeinsame Lebensgefühl verloren gegangen zu sein. Für die Hälfte der befragten Obereichsfelder sind die niedersächsischen Nachbarn keine Eichsfelder, sondern Westdeutsche, umgekehrt bezeichnen die befragten Untereichsfelder ihre Nachbarn in Thüringen als Ostdeutsche."
Eigentlich traurig, dass ausgerechnet Erich Hone-ckers Prophezeiung, die Mauer werde noch in 50 bis 100 Jahren stehen, als einzige seiner Phrasen Bestand haben könnte. Auch wenn die Mauer nicht mehr sichtbar ist.
Maren Ullrich: Geteilte Ansichten. Zum Umgang mit der deutsch-deutschen Grenze. Aufbau-Verlag, Berlin 2006; 351 S., 24,90 Euro.