Isabel Allende, Großnichte des chilenischen Staatspräsidenten Salvador Allende, wurde einem internationalen Publikum 1983 bekannt durch ihren bislang wohl besten Roman "Das Geisterhaus", ihr nach dem Putsch von Pinochet im venezolanischen Exil geschriebenes, und gänzlich dem chilenischen Kontext verhaftetes Erstlingswerk.
Nach zahlreichen weiteren Romanen und Erzählungen geht Allende mit ihrem bereits vor drei Jahren in Chile erschienenen Buch "Mein erfundenes Land" auf Spurensuche nach ihrer Heimat und den Gründen ihres sie seit langem begleitenden Heimwehs, ohne das dieses Buch nicht geschrieben worden wäre.
Der mit dieser Spurensuche verbundene Versuch der Selbstvergewisserung, die Frage nach ihrem Identitätsgefühl, beantwortet Allende gleich zu Beginn mit dem Hinweis auf eine "grausige Koinzidenz". Während sie, Ehefrau und Mutter, und beruflich bereits eine erfolgreiche Journalistin, durch den Staatsstreich Pinochets am 11. September 1973 ihr Land verlor, gewann sie am 11. September 2001, dem Tag des Anschlages auf die Twin-Towers in New York, ein Land. Sie definiert sich selbst als "Teil der bunten Bevölkerung Nordamerikas", so wie sie "früher Chilenin war". Allende ist, nach langen Jahren des Exils in Spanien, Venezuela und schließlich den USA, angekommen.
Allende will uns die Gesichter ihres 4.300 Kilometer langen und alle Klimazonen umfassenden Landes, das so weit am Rand der Landkarte liegt, "dass man nicht weiter gehen kann, ohne vom Planeten zu fallen", näher bringen. Auch wenn sie selbst "nirgends hinein passte, weder in meine Familie noch in die soziale Schicht oder die Religion, die mir der Zufall beschieden hatte", und sich jetzt im umfassenden Sinne als Amerikanerin versteht, breitet Allende ein schillerndes Kaleidoskop an Gepflogenheiten, Marotten, Komplexen und Ausdrucksformen der zählebigen Mentalität eines Volkes aus.
Vielleicht ist es gerade die vielgestaltige Distanz, die solche Blicke und Einsichten, aber auch deren Artikulation erst ermöglicht. Dabei gibt es kaum ein Thema, das Allende nicht aufgreift, und so einen Querschnitt durch die chilenische Gesellschaft ermöglicht.
Angefangen von der geografischen Vielgestaltigkeit des reichen Landes, den verschiedenen Wellen der Einwanderung und den nicht zuletzt hinsichtlich der deutschen Einwanderung im Süden Chile bis heute deutlich erkennbaren Spuren problematisiert Allende "das Märchen, in Chile gebe es keine Rassenprobleme". Ein anderes facettenreiches Themengebiet ist für Allende, eine der frühen bekennenden Feministinnen in Chile, mit den Begriffen Ehe und Familie sowie Gleichberechtigung und dem Verhältnis zur Sexualität zu umschreiben. Hierzu zählt auch der Machismo, dessen beste Komplizinnen noch immer die Frauen sind.
Die starke Stellung der katholischen Kirche, die einen weit verbreiteten Aberglauben oder esoterische Praktiken bis in die Reihen der ehemaligen militanten Linken nicht ausschließt, wird ebenso thematisiert wie die Regelungswut der Bürokratie, das Schicksal der Hausangestellten, die Regeln der Gastfreundschaft oder die Verhaltensweisen der Handwerker.
Auch wenn vieles zum Schmunzeln anregt, legt Allende eindringlich auch den Finger in so manche Wunde des südamerikanischen Musterstaates. Dies gilt für eine kritische Sicht auf die Vorgeschichte des Putsches von 1973 und die nachfolgenden Jahre der Diktatur, die von vielen Chilenen geteilte Exilerfahrung, die bis heute nicht überwundene Spaltung Chiles durch die Pinochet-Diktatur ebenso wie für das selbst für lateinamerikanische Verhältnisse dramatische Auseinanderklaffen der Einkommensschere, das von vielen politischen Kräften als eines der Kernproblem der chilenischen Demokratie erkannt worden ist.
Hervorzuheben ist, dass der kritische, im Grunde aber liebevolle Blick aus der Distanz nicht nur auf "die Anderen" gerichtet ist. Sehr offen zieht Allende vielfältige Beispiele aus ihrer eigenen Familie heran, der es an beeindruckenden Persönlichkeiten ebenso wenig fehlt wie an stadtbekannten Sonderlingen, die in vielerlei Hinsicht in ihre literarischen Arbeiten Eingang gefunden haben.
"Mein erfundenes Land" ist eine gelungene Mischung aus Familien-, Landes- und Mentalitätsgeschichte. Es ist das Psychogramm eines Volkes, humorvoll verwoben mit autobiografischen Anteilen und Einblicken in den Werkhintergrund so mancher Bücher Isabel Allendes.
Allende behandelt ihre Themen mit viel Selbstironie, aber auch mit einer Offenheit, die Verletzungen einkalkuliert. Geheimnisse, so bekennt Allende, kann sie nicht für sich behalten. Daher redet die Hälfte ihrer Familie nicht mit ihr. Mag sein, dass sich nach diesem Buch weitere Chilenen diesem Schweigezirkel anschließen. Was schade wäre, denn trotz vieler kritischer Anmerkungen und Leid ist dieses Buch eine Liebeserklärung an ihr wohl doch nicht endgültig verlorenes Chile.
Isabel Allende: Mein erfundenes Land. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006; 205 S., 16,80 Euro.