Neun angehende Tischlerinnen und Tischler sowie eine Raumausstatterin aus Hamburg machen sich dieser Tage auf den Weg nach Danzig. Sie tragen keine schwarzen Breitkordhosen mit Schlag und weite Hüte, wie man es von der Schar fahrender Wandergesellen kennt, die einem bisweilen abends in der Kneipe begegnen, und bitten auch nicht singend um freundliche Aufnahme und Quartier. Sie sind unterwegs nach Danzig, um herauszufinden, wie das Tischlerhandwerk in Polen praktiziert wird: Wie man dort Bretter zusägt, Bolzen fertigt, Stühle und Bänke zusammenfügt. Sie wollen vor Ort erfahren, wie der Beruf, den sie gerade in ihrem Heimatland Deutschland erlernen, im polnischen Ausland praktiziert wird.
Gelegenheit dazu gibt ihnen ein außergewöhnliches Fortbildungsprogramm des Bildungsträgers "Arbeit und Leben" in Hamburg. Nach einem kurzen Intensivkurs in Landeskunde und Sprache dürfen die zehn Lehrlinge zwei Wochen lang ihren polnischen Kollegen über die Schulter gucken.
"Arbeit und Leben" versucht so, einem Notstand abzuhelfen, der sich schon seit einigen Jahren abzeichnet. Es sei hierzulande relativ weit verbreitet, während des Studiums ein Jahr ins Ausland zu gehen, so Hans Thormählen, Projektleiter des Vereins. Allein zwölf Prozent aller deutschen Studenten absolvieren dort ein oder mehrere Forschungssemester oder qualifizieren sich zusätzlich im Rahmen von international anerkannten Master- oder Dissertations-Programmen. Im krassen Gegensatz dazu steht die Zahl der Auszubildenden und Lehrlinge, die nach ihrem Abschluss Auslandserfahrung im Lebenslauf nachweisen können. "Da sind es höchstens ein Prozent", so Thormählen.
Wie kann man Jugendliche aus Deutschland und Polen stärker unterstützen, einen Teil ihrer Ausbildung im europäischen Ausland zu absolvieren? Über diese und andere Fragen diskutierten am vergangenen Montag in Berlin Jugendliche aus Chelmno und Hannoversch Münden mit Gesine Schwan, Koordinatorin für deutsch-polnische Zusammenarbeit und Präsidentin der Europa-Universität in Frankfurt an der Oder sowie Krzysztof Kosela vom Warschauer Institut für Soziologie. Gastgeber der Fachtagung war der Gesprächskreis Migration und Integration der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ein Arbeitsaufenthalt im Ausland - eine von zahlreichen Möglichkeiten, bei Jugendlichen aus Deutschland und Polen eine europäische Identität zu entwickeln. Wichtige Voraussetzung für die Verständigung bleibt dabei das Erlernen der Sprache des Nachbarn. In der Diskussion forderte Gesine Schwan aber nicht nur die Jugendlichen auf, sich stärker dem Erwerb der polnischen Sprache zu widmen. Selbst einst Absolventin des deutsch-französischen Gymnasiums in Berlin, beklagte sie die Tatsache, dass es in Deutschland verschwindend wenige Gymnasien mit Schwerpunkt Polnisch gebe, wohingegen die Zahl der deutsch-polnischen Schulen in den letzten Jahren in Polen auf 42 Einrichtungen gewachsen sei.
Eingehend diskutierten Angelica Schwall-Düren, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, mit Adam Krzeminski von der Warschauer Wochenzeitung "Polityka", und Gerhard Sabathil, Vertreter der EU-Kommission, wie eine größere Akzeptanz der europäischen Idee unter Jugendlichen erreicht werden könne. Gibt es unter ihnen überhaupt so etwas wie eine "europäische Identität"?
Thormählens Projekte zeigen, dass man sie zumindest entwickeln kann. Sein Engagement beschränkt sich nicht nur auf eine Richtung: Im nächsten Jahr sollen im Austausch Danziger Auszubildende aus der holzverarbeitenden Industrie nach Hamburg kommen und einen Einblick in den deutschen Ausbildungsmarkt bekommen. Dabei ist das duale System, wie es in Deutschland in den Lehrberufen weit verbreitet ist, in den meisten europäischen Nachbarstaaten oftmals unbekannt. Ähnliche Weiterbildungsmaßnahmen von "Arbeit und Leben" laufen im Austausch mit zahlreichen anderen europäischen Ländern. Die Projekte beschränken sich nicht nur auf die Förderung von Auszubildenden und Lehrlingen, sondern bieten auch Angebote für ältere Arbeitnehmer. Im Vordergrund steht dabei die Förderung von Mobilität sowie der Erwerb von interkultureller Kompetenz. Erfahrungen sollen aufgebaut und Vorurteile abgebaut werden. Während Hamburg in der Baubranche eine Arbeitslosenquote von knapp zehn Prozent zu verzeichnen habe, so Thormählen, werden in Dänemark, keine 100 Kilometer von der Stadt entfernt, Bauarbeiter dringend gesucht.
Zur Vorbereitung auf den Aufenthalt im Ausland veranstaltet der Bildungsträger Arbeit und Leben jeweils ein Seminar in Hamburg. Dabei werden auch Vorurteile und Stereotypen besprochen, die unter vielen der Jugendlichen bisweilen herrschen. So äußerten die angehenden Tischler beispielsweise die Sorge, Polen könnten ihnen in Kürze Arbeitsplätze streitig machen. In Danzig angekommen mussten sie allerdings schnell einsehen, dass viele Polen ihr Heimatland gar nicht verlassen wollen. Später beunruhigten sich die deutschen Jugendlichen über den Mangel an Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen in den polnischen Betrieben: "Die tragen hier ja gar keine Sicherheitsschuhe", stellte einer von ihnen fest. Auf der anderen Seite begrüßten sie das hohe Maß an Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit, das von ihnen erwartet wurde. Eines wurde ihnen sofort deutlich: "Wir werden hier viel weniger kontrolliert."