Der Ton gegenüber der Türkei wird schärfer. Vier Wochen vor dem mit Spannung erwarteten Fortschrittsbericht der EU-Kommission verabschiedete vergangene Woche das europäische Parlament einen äußerst kritischen Bericht. Abgeordnete der Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen befürchten, dass dadurch die Reformkräfte in der Türkei geschwächt, die Hardliner in ihrer Abkehr von Brüssel bestärkt werden könnten. Der konservative Berichterstatter, der Holländer Carmiel Eurlings, trug dieser Kritik mit einigen abschwächenden Änderungen Rechnung. Am Ende bezeichnete er seinen Bericht zur Türkei als "hart aber fair". Die neuerliche Anklage gegen den armenischen Schriftsteller Hrant Dink beweise, dass der neu geschaffene Artikel 301 des Strafgesetzbuches, der Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt, die Meinungsfreiheit behindere. In einem Interview hatte der Schriftsteller über den türkischen Genozid an den Armeniern gesprochen. Die entsprechende Passage im Eurlings-Bericht sorgte im Europaparlament für heftige Kontroversen. In der ursprünglichen Fassung wurde Ankara aufgefordert, den Genozid anzuerkennen. Ohne Eingeständnis des Völkermords sei ein Beitritt zur Europäischen Union nicht möglich. Diese Passage schwächte Eurlings ab, um die Mehrheit für seinen Bericht nicht zu gefährden. Im nun angenommenen Text wird Ankara aufgefordert, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Scharfe Kritik übt der Bericht daran, wie die Minderheitenreligionen behandelt werden. Bis heute werde Kirchenbesitz enteignet, Priesterseminare blieben geschlossen, so Eurlings. "Es muss genauso einfach möglich sein, in der Türkei eine Kirche zu bauen, wie es möglich ist, in anderen Teilen der EU eine Moschee zu errichten."
Vorrangig sei auch, das so genannte Ankara-Protokoll umzusetzen, das die Beziehungen zwischen der Türkei und der griechischen Republik Zypern normalisieren soll. "Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, dass die Türkei wie zugesagt das Protokoll bis Ende des Jahres umsetzt", sagte Eurlings. Erweiterungskommissar Olli Rehn kritisierte vor dem Straßburger Plenum ebenfalls das schleppende Reformtempo: "Die Strafverfahren schaffen ein eisiges Klima und beschädigen die wertvolle Arbeit, die von Journalisten, Intellektuellen und Bürgerrechtlern geleistet wird. Ich habe wiederholt meine Sorge darüber ausgedrückt, zuletzt bei einem Treffen mit Außenminister Gül in New York. Es ist höchste Zeit, dass die Türkei ihr Strafgesetzbuch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einklang bringt." Dem pflichtete der deutsche CDU-Abgeordnete Elmar Brok bei. "Politische Kriterien sollen am Anfang der Verhandlungen erfüllt sein, nicht am Schluss." Unverständlich sei ihm, wieso die Tendenz des Berichts bei einigen Abgeordneten auf Ablehnung gestoßen sei. "Jetzt darf man schon keine Fakten mehr aussprechen, weil das in der Türkei kritisch aufgenommen werden könnte ..." Sein sozialdemokratischer Landsmann Vural Öger kritisierte den Bericht dagegen als "Sammelsurium von Negativbeispielen". Auch liberale und grüne Abgeordnete kritisierten den Bericht als einseitig. Der Liberale Andrew Duff forderte, die Kritik solle "die Modernisierung im Land unterstützen und nicht blockieren." Zur türkischen Beteiligung an der Libanon-Einsatztruppe UNIFIL sagte Duff: "Türkische Truppen unter französischem Oberbefehl sind ein wichtiger Wendepunkt in der Gemeinsamen Europäischen Außenpolitik." Der grüne Abgeordnete Jost Lagendijk sagte, er halte es für richtig, die Probleme offen anzusprechen. "Aber es gibt einen Punkt, wo dieser Bericht aus dem Gleichgewicht gerät. Man kann nicht die Türkei allein für den Konflikt mit Zypern verantwortlich machen."