ENERGIE
Auf dem EU-Gipfel kann die Union erste Erfolge
vermelden. Die echten Herausforderungen stehen aber noch aus.
Beim Frühjahrsgipfel der Staats- und Regierungschefs geht es traditionell um Wirtschaftsfragen. Ende dieser Woche steht deshalb die Lissabon-Agenda erneut auf dem Programm. Konkrete Beschlüsse sind dabei nicht zu erwarten. Die Runde wird erfreut zur Kenntnis nehmen, dass die Union aus der konjunkturellen Talsohle herausgekommen ist. Gesetzliche Vereinfachungen und Bürokratieabbau sollen diesen Prozess weiter begünstigen. Deutschland ist ja mit seinem zweiten Mittelstandsentlastungsgesetz vergangene Woche mit gutem Beispiel voran gegangen. Ratspräsidentin Angela Merkel wird versuchen, ihre Kollegen auf ähnliche nationale Ziele zu verpflichten. Das Motto für das Hauptthema des Treffens hat Angela Merkel bereits ausgegeben: Wie kann es gelingen, Ökonomie und Ökologie zu versöhnen? Mit anderen Worten: Wie kann das Wirtschaftswachstum klimaverträglich gestaltet werden? Im Europaausschuss kündigte Michael Glos (CDU) am 28. Februar an, der Gipfel werde einen Energieaktionsplan beschließen. Schwerpunkte der Vereinbarung sollen der Ausbau des Binnenmarktes für Elektrizität und Gas sowie die Förderung Erneuerbarer Energien sein. In beiden Themen liegt viel Sprengstoff. Noch immer wird der grenzüberschreitende Handel mit Energie im Binnenmarkt dadurch behindert, dass die Netze nicht kompatibel sind. Bei grenzüberschreitenden Übernahmeversuchen, wie jüngst beim Angebot der deutschen E.ON an die spanische Endesa, zeigt die aufgeregte Reaktion der betroffenen Regierungen, dass der Energiemarkt sich derzeit nicht öffnet sondern renationalisiert.
Erneuerbare Energien Auch das von Glos im Europaausschuss angekündigte Ziel, den Anteil der erneuerbaren am Energieaufkommen bis 2020 auf 20 Prozent zu steigern, stößt in vielen Mitgliedstaaten auf Ablehnung. Vor allem Frankreich sieht das als Bevormundung und Versuch des Nachbarn, Einfluss auf den französischen Energiemix zu nehmen. Dort kommen 77 Prozent des Stroms aus Atomkraftwerken. In Deutschland sind es nur knapp 30 Prozent. Frankreichs CO2-Bilanz ist entsprechend positiv. Es wird damit gerechnet, dass Paris vorschlagen wird, statt ein verbindliches Ziel von Erneuerbaren ein verbindliches Ziel von CO2-neutralen Energiequellen festzulegen - dann könnte die Atomstrom-Produktion angerechnet werden. Glos will erreichen, dass die Union künftig eine gemeinsame Energieaußenpolitik anstrebt - unter anderem bei der Kooperation mit Russland. Der Frage, ob dieses Ziel realistisch ist, widmete sich vergangene Woche eine Anhörung im Europaparlament. Aus erster Hand berichtete Vladimir Milov über die derzeitige innenpolitische Lage in Russland. Von Mai bis Oktober 2002 hat er selbst als stellvertretender Energieminister ein kurzes Gastspiel in der russischen Nomenklatura gegeben. Heute leitet er das unabhängige Institut für Energiepolitik in Moskau. Wägt er die positiven und negativen Aspekte einer Energiepartnerschaft der EU mit Russland gegeneinander ab, senkt sich die negative Waagschale ziemlich stark. Die Infrastruktur sei in so schlechtem Zustand, die Investitionen so gering, dass Russland für seinen eigenen Bedarf Gas importieren müsse. Das gefährde auch Europas Energiesicherheit. Viel schlimmer aber sei, dass der gesamte Energiesektor unter Putins Ägide wieder der staatlichen Kontrolle unterworfen worden sei.
Anlässlich des zehnten Geburtstags von Gazprom habe Putin
es am 14. Februar 2003 im Kreml ganz offen ausgesprochen: "Gazprom
ist ein wichtiger, mächtiger Hebel für Russlands
wirtschaftlichen und politischen Einfluss in der Welt." Erst wenn
sein Land wieder eine demokratische Regierung habe, werde sich die
Situation im Energiesektor ändern, prophezeit Milov. Er
rät den Europäern, in den Verträgen auf
Gleichberechtigung zu bestehen. Es könne nicht angehen, dass
Russland unbeschränkt auf dem Europäischen Energiemarkt
investieren wolle, gleichzeitig im eigenen Land aber nur
Minderheitsbeteiligungen zulasse. Für die von der EU
angestrebte "Energiecharta" allerdings sieht Milov in der
derzeitigen Situation keine politische Chance. In Russland gebe es
keinen Fürsprecher für diesen Vertrag, der seinem Land
viele Verpflichtungen abverlangen würde, ohne ihm Vorteile zu
bringen. Das Thema müsse auf neuer Grundlage völlig neu
verhandelt werden. Vor allem aber dürfe sich die EU nicht von
russischen Lieferungen abhängig machen. Denn die staatlichen
In
ves
titionen in neue Gasvorkommen und alte Infrastruktur seien viel zu
gering, als dass die Zusagen wirklich eingehalten werden
könnten. Das Gleiche gelte für die angekündigten 40
neuen Kernkraftwerke. Dafür seien 2007 nur 2 Milliarden Dollar
eingeplant. Würden die Investitionen nicht drastisch
erhöht, könnten 2030 allenfalls zehn neue Reaktoren
betriebsbereit sein.
Noé van Hulst von der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris machte mit einigen drastischen Zahlen klar, worum es geht: Wenn die bisherige Energiepolitik fortgesetzt wird, dann steigt, bezogen auf den heutigen Verbrauch, der Energiebedarf bis 2030 um 50 Prozent an. Dieser Zuwachs würde hauptsächlich durch Kohle und Gas gedeckt. Die größte Nachfrage wird in China, Japan und Indien entstehen. Bereits heute öffnet China alle vier bis fünf Tage ein neues Kraftwerk, das ein Gigawatt produzieren kann. Vergangenes Jahr entsprach der Energiezuwachs im Reich der Mitte dem Jahresverbrauch in Großbritannien. In den kommenden zehn Jahren wird ein Zuwachs erwartet, der dem Energieverbrauch von ganz Europa entspricht. Wenn Europa seine Energiepolitik nicht ändert, werde es in wenigen Jahren mit China und Indien um Ressourcen wetteifern, die nicht für alle reichen können, prognostiziert van Hulst. Auch Gas biete keine Alternative. Die Gasimporte müssten bis 2030 um das Eineinhalbfache steigen - zwei Drittel dieses Zuwachses kämen aus Russland, dem Mittleren Osten und Nordafrika. "Das Investitionsverhalten dieser Länder lässt schon jetzt voraussagen, dass sie den Bedarf nicht decken werden", sagt van Hulst.
Deshalb plädiert van Hulst für ein alternatives Szenario. Europa solle mehr in energieeffiziente Lösungen investieren. Dafür gebe es enorme Reserven im Transportwesen, bei der Produktion oder in der Isolation von Gebäuden. Zusätzlich müssten erneuerbare Energien weiter ausgebaut werden. So wäre es nach van Hulsts Überzeugung möglich, ab dem Jahr 2015 den Energieverbrauch fast konstant zu halten und den Ölverbrauch zu senken. "Dazu brauchen wir auch eine Steigerung der nuklearen Stromerzeugung in den Ländern, wo das politisch durchsetzbar ist." Dass es ohne Atomstrom nicht gehen wird, glauben auch die anderen Referenten, zum Beispiel der Pariser Wirtschaftsprofessor Jan Horst Keppler. In seinem Vortrag erinnerte er daran, dass in China 1,2 Milliarden Menschen wohnen - mehr als doppelt so viele in Europa. Derzeit beträgt ihr Energieverbrauch ein Öläquivalent pro Kopf - im Vergleich zu vier Öläquivalent in Europa und acht Öläquivalent in den USA. Wie die Nachfrage nach fossilen Brennstoffreserven sich vervielfachen wird, wenn sich der Lebensstil in China europäischen Verhältnissen annähert, kann man sich leicht ausrechnen. Deshalb hält Keppler die neuen Atomreaktoren in Finnland und Frankreich für die richtige Antwort. Auch andere europäische Länder wie Großbritannien, die Slowakei, Bulgarien und Litauen seien dieser Form der Energieerzeugung gegenüber aufgeschlossen.
Energiesicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz - nach Ansicht der Experten muss die EU einen Weg finden, diese drei Ziele zusammenzuführen. Der Gipfel Ende der Woche wird zeigen, ob die dramatischen Erkenntnisse des UN-Klimaberichts die Kompromissbereitschaft erhöht haben. Dass die Veränderungen bereits unumkehrbar sind, bestreitet in der EU niemand mehr. In ihrer Schlusserklärung beim Umweltrat Mitte Februar begrüßten die Minister ausdrücklich, dass die EU-Kommission in einem Grünbuch versuchen wolle, "europäische Unternehmen und Bürger" auf die Konsequenzen der Erderwärmung vorzubereiten. Dass es nicht nur die Europäer treffen wird, machte bei der Anhörung Jennifer Morgan vom Berliner Energieinstitut E3G deutlich. Der Stern-Report habe gezeigt, dass der ökonomische Schaden weiterer Erderwärmung die Folgen des Ersten und Zweiten Weltkriegs zusammen übersteigen würde. Eine Wende in der Energiepolitik sei der Schlüssel für alle anderen Bereiche. Andernfalls drohten humanitäre Konflikte und eine Klimamigration, die bisherige Wanderungsbewegungen in den Schatten stellen werde. Europa müsse seine Vorreiter-Rolle ausbauen und mit einer Stimme sprechen.
Der Frühjahrsgipfel wird sich aller Voraussicht nach darauf einigen, dass die EU-Länder den CO2-Ausstoß bis 2020 um 20 Prozent reduzieren wollen. Richtig brisant wird es aber erst, wenn diese Verpflichtung auf die einzelnen Mitgliedsländer verteilt wird. Noé van Hulst von der Internationalen Energieagentur gab den Gipfelteilnehmern zum Abschluss der Anhörung folgende Mahnung mit auf den Weg: Die Forderung der Experten, dass in der Energiepolitik die Europäer mit einer Stimme sprechen müssten, sei ja nicht falsch. Dazu müssten sie sich aber zunächst auf eine gemeinsame Botschaft einigen. Ob das bereits Ende der Woche auf dem Frühjahrsgipfel gelingen kann, ist fraglich.