Als "einen zentralen Prüfstein für die Zukunftsfähigkeit unserer bundesstaatlichen Ordnung" bezeichnete Köhler die Reform des deutschen Bildungssystems. Es sei heute nicht gleichgültig, "ob ein Land seinen Bedarf an Facharbeitern, Ingenieuren und Naturwissenschaftlern selbst heranbilden kann - oder ob es in diesen Schlüsseldisziplinen auf Zuwanderung von außen hoffen muss". Mit Begeisterung wandelten sich andere Nationen zu Wissensgesellschaften. Deutschland tue sich dagegen schwer, kritisierte Köhler. Aber gerade auch die deutsche Demokratie brauche mehr Bildung, damit junge Menschen "Populis-ten, Extremisten und religiösen Fanatikern" nicht auf den Leim gingen.
Der Bundespräsident beklagte die zu geringe Zahl von Abiturienten und Hochschulabsolventen sowie die schlechte Finanzausstattung der Bildung. "Beschämend" fand er die fehlende Chancengleichheit in der Bildung. In diesem Zusammenhang forderte er ein verpflichtendes und möglichst kostenfreies Kindergartenjahr vor der Einschulung. Auch ein verbindlicher Sprachtest dürfe nicht fehlen. Köhler sprach sich zugleich für die Einführung eines sozialen Pflichtjahres für alle jungen Menschen aus.
In seiner Rede, die er unter das Motto "Bildung für alle" gestellt hatte, unterstrich der Bundespräsident zudem: "Wir müssen endlich ernst machen mit der individuellen Förderung von Schülern." Er befürwortete auch einen gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern. Religionsunterricht ist für ihn "unverzichtbar"; die Einführung von Islamunterricht in deutscher Sprache von gut ausgebildeten Lehrern "überfällig". "Bildung ist auch Herzensbildung", formulierte er. Aus diesem Grunde sollten selbst bei knappen Schul- und Lernzeiten Fächer wie Kunst, Sport und Musik nicht zu kurz kommen.
Aber auch die jungen Menschen selbst seien gefordert. Deshalb verlangte er von ihnen beim Lernen "Anstrengung und Beharrlichkeit". Denn zum Rüstzeug des Lebens gehörten auch "Respekt, Rücksichtnahme, Manieren, das Wissen um Rechte und Pflichten". Die Eltern ermahnte er, ihre Erziehungsverantwortung ernster zu nehmen: "Kinder sollten auch Grenzen kennen lernen. Auch das Wort Nein gehört zum Erziehungsauftrag, befand Köhler. Notwendig seien Zuwendung, mehr Zeit für Kinder, "Spiel und Gespräch, Vorlesen und Erzählen, gemeinsame Mahlzeiten am Familientisch". Die Leidtragenden seien immer die Kinder, wenn Eltern an dieser Aufgabe scheiterten. "Manche nehmen ihre Verantwortung auch nicht ernst genug", konstatierte Köhler.
Gute Bildungschancen seien schon in der frühen Kindheit wichtig ebenso wie ein enges Zusammenwirken von Kindertagesstätten und Schulen. "Ein Gebot der frühkindlichen Förderung" sei auch "ein Gebot der Chancengerechtigkeit." Hier zu investieren sei sehr wichtig. Aber ebenso falsch wäre es, dafür Leis-tungen bei den Hochschulausgaben zu kürzen, betonte der Bundespräsident.
Gleichzeitig forderte er mehr Anerkennung für die Lehrer, die "keine Einzelkämpfer am Pult" sein dürften. So beklagte er, dass es in manchen Schulen für sie fast unmöglich sei, die Aufgaben zu erfüllen, weil in den Elternhäusern und im sozialen Umfeld schon zu viel versäumt worden sei. Köhler wörtlich: "Engagierte Lehrer sind Helden des Alltags."
Überlegungen, sinkende Schülerzahlen in den kommenden Jahren zum Anlass für Einsparungen bei der Bildung zu nehmen, bezeichnete Köhler als "kurzsichtig". Als "zusätzliche Chance" für das ganze Bildungssystem müsse der Geburtenrückgang genutzt werden: "Unsere Bildungsausgaben sind insgesamt zu niedrig."
Die Kepler-Oberschule im Bezirk Neukölln, ein sozialer Brennpuntkt mit hoher Arbeitslosigkeit und einem großen Anteil von Zuwanderern, hatte Köhler vor dem Hintergrund der Debatte über Problemschulen ausgewählt. Rund 85 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund. In der zehnten Klasse sind hier lediglich noch drei deutsche Schüler. Im Frühjahr hatte ein Hilferuf von Lehrern wegen Gewalt an der Rütli-Schule in dem selben Bezirk eine Diskussion über die Schulpolitik ausgelöst.
Die Tradition der "Berliner Rede" wurde 1997 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog begründet. Er forderte dazu auf, einen "Ruck" durch Deutschland gehen zu lassen. Bundespräsident Johannes Rau setzte diese Reihe fort, an die nun dessen Amtsnachfolger Horst Köhler am 21. September anknüpfte.