Ist der Bürger zum Beispiel mit den Methoden der GEZ nicht einverstanden, wie sie die Gebühren einzieht, oder möchte er eine Volksabstimmung über den EU-Verfassungsvertrag oder will er überprüfen lassen, ob die Ablehnung seines Antrages auf Zahlung von ALG II durch die zuständige Agentur für Arbeit rechtmäßig war, kann er sich an Kersten Naumann und ihr Team wenden. Die Parlamentarierin sitzt für Die Linke im Bundestag und ist Vorsitzende des Petitionsausschusses. Der Ausschuss prüft und kann in dem einen oder anderen Fall helfen. Unter den 22 Ausschüssen ist er eine Art "Exot". Denn dort wird unter den Abgeordneten der verschiedenen Fraktionen gemeinsam darüber gestritten, was mit der einzelnen Petition passieren soll. Die Parlamentarier setzen sich dort für die Rechte der Petenten - wie es in der Fachsprache heißt - dann ein, wenn sie glauben, dass das Anliegen zu Recht besteht. Sie sehen so auch, wie die Gesetze in der Praxis funktionieren. Wenn sie Mängel feststellen, können sie Änderungen in der Bundesgesetzgebung anregen. "Man könnte den Petitionsausschuss als die ,Abteilung Controlling' des ,Unternehmens Deutscher Bundestag' bezeichnen", unterstrich die Vorsitzende am 19. September bei der Übergabes des Tätigkeitsberichts 2005 an Bundestagspräsident Norbert Lammert. "Bezogen auf die Gesetzgebung sind wir so etwas wie eine Innenrevision", hob sie bei dieser Gelegenheit hervor.
Die 47-jährige Thüringerin ist mit der 16. Legislaturperiode neu in das "Petitionsgeschäft" eingestiegen. Ein Sprung ins kalte Wasser, den sie aber bis heute nicht bereut hat, wie sie im Gespräch mit "Das Parlament" festhält. Denn eigentlich ist die Agraringenieurin der Tierproduktion, die vorher eine Ausbildung zur Agrotechnikerin absolviert hatte, eher auf Landwirtschaft und Ernährung programmiert und war auch für dieses Feld politisch angetreten. So saß sie in ihrer ersten Legislaturperiode von 1998 bis 2002 im Landwirtschaftsausschuss, wo sie jetzt noch als stellvertretendes Mitglied dabei ist. Sie weiß hier, worüber sie spricht. Mit einem Mähdrescher oder einem Traktor den Acker zu bestellen, stellt für sie kein Problem dar. In Bad Frankenhausen (Kyffhäuserkreis/Thüringen), wo sie geboren ist und heute noch lebt und als LPG-Bäuerin gearbeitet hat, findet man noch ländliche Ruhe, Abgeschiedenheit, ja Provinz, ohne dass das abschätzig klingen soll. Doch Kersten Naumann mag diesen Kontrast zu Berlin, genießt ihn sogar. Sie hängt an ihrer Heimat. Wenn sie Landluft riecht, die Natur mehr wird und die Menschen weniger werden, kann hier sie nach einer anstrengenden Berliner Sitzungswoche durchatmen und sich entspannen.
Die Parlamentarierin, konfessionslos, früheres SED-Mitglied, geschieden und Mutter von zwei Kindern, kennt privat wie beruflich Höhen und Tiefen. 2002 schied sie nach einer Legislaturperiode aus dem Bundestag aus, die PDS scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde. Sie wurde arbeitslos, eine Erfahrung, die sie auch zweimal in den 90er-Jahren machen musste. "Jeder Abgeordnete müsste eigentlich mal arbeitslos gewesen sein, um zu wissen, wie es auf dem Arbeitsamt als Kunde ist." Natürlich wünscht sie das niemandem wirklich, aber man weiß, was sie meint. So was hält am Boden, "erdet".
Mit dem Ausschussvorsitz erlebt sie jetzt einen Höhepunkt, eine Aufgabe, die ihr auch Spaß macht, vor allem wenn wie jetzt beeindruckende Zahlen aus der Ausschussarbeit genannt werden können. Mehr als 22.000 Eingaben sind beim Petitionsausschuss im Jahr 2005 eingegangen und geprüft worden, eine Steigerung um 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Der Ausschuss erlebte eine Premiere, als er am 1. September 2005 als erstes parlamentarisches Gremium mit einem Web-Formular ins Netz ging, um im Rahmen eines Modellversuchs die öffentliche Petition zu testen. 300.000 Bürger und Bürgerinnen haben reagiert, entweder mit einem Diskussionsbeitrag oder als Mitunterzeichner einer Petition. Die Schotten standen Pate für dieses Projekt. "Das Modell der ?öffentlichen Petition' ist bisher einmalig in Deutschland. Das Angebot wird rege genutzt. Unsere Erwartungen hinsichtlich der Resonanz sind erheblich übertroffen worden", resümiert die Vorsitzende. Da gibt es viel Interessantes zu lesen, aber gelegentlich auch verbale Entgleisungen. Die Beschimpfungen im Netz sieht sich Kersten Naumann erst gar nicht an. "Ich liebe die sachliche Ebene." Und wenn jemand sachlich bleibt, hört sie auch mal länger zu. "In unserer Gesellschaft ist zuhören nicht mehr angesagt. Die Gesellschaft ist hektisch und oberflächlich." Insofern leiht sie Anrufern gerne ihr Ohr, hat auch ein nettes Wort übrig oder hilft mit einer Anregung. "Das geht dann nach vorn. Das ist auch wohltuend."
Auch wenn sie den Ausschuss leitet, legt sie größten Wert auf Teamarbeit, weiß um die Unterstützung aus dem Ausschusssekretariat, ohne das diese Aufgabe nicht gut gelöst werden kann. Und sie will diese Aufgabe gut machen, versteht sie als Herausforderung. Es gefällt ihr nicht, dass der Ausschuss kein Initiativrecht wie andere Ausschüsse besitzt. Das heißt, dass er eben nur auf Petitionen reagieren kann. Doch Naumann würde gerne auch ohne Petitionen die Initiative ergreifen. Dazu läuft jetzt eine Große Anfrage ihrer Fraktion. Die Antwort ließe aber schon mehr als lange auf sich warten. Ihr Ziel heißt jedenfalls: Änderung des Petitionsrechts.
Es ist diese Form der bürgernahen Politik, die Kers-ten Naumann liegt. Einen Erfolg verbuchte sie jüngst im Wahlkreis, als die Schließung einer Arbeitsagentur verhindert werden konnte. "Es lohnt sich also, Druck zu machen und zu kämpfen." Ihr Start im Petitionswesen sei nicht einfach gewesen, aber schon ihre Mutter habe immer gesagt, dass der Mensch mit den Aufgaben wachse, konstatiert sie. Und ihre integrative Ader, eine Grundeinstellung, hilft ihr sicherlich, den Job gut zu machen. Harmoniesüchtig sei sie. Das könne sie auch nicht abstellen, will sie auch gar nicht, denn im Grunde sei es doch eine gute Eigenschaft. Auf Teufel komm raus den Streit zu suchen, ist eben nicht ihre Sache. Wenn sie eine Aufgabe angeht, organisiert sie diese von A bis Z durch, was sie als Stärke ansieht.
Projekte, die zu nichts führen, hält sie für vergeudete Lebenskraft. Sie engagiert sich besonders dann gern, wenn es darum geht, eine Aufgabe mit Partnern zu organisieren, zu Ende zu bringen und dabei von vornherein zu wissen, dass man dabei erfolgreich sein wird. Dazu passt auch ihr Lebensmotto, ein Zitat von George Bernard Shaw, das sie auf die erste Seite ihres Internet-Auftritts gestellt hat: "Die wahre Freude am Leben ist, für ein Ziel gebraucht zu werden, das man selbst als wichtig anerkennt."