Lettland
Das Land ist Spitzenreiter bei erneuerbaren Energien - und liebäugelt mit Kernkraft
Mitten im Wald von Tukums liegt das kleine Sägewerk von Maris Kiezis. Mit einer Säge und zwei Mitarbeitern hat der Unternehmer nach Lettlands Unabhängigkeit begonnen, heute sind mehr als 20 Leute bei ihm angestellt. Neben Stapeln frisch gesägter Bretter stehen die großen Häcksler, die Baumrinde und Äste zu Holzchips schreddern. Früher sei es Abfall gewesen, den er einfach im Wald gesammelt und verbrannt habe, erklärt Maris Kiezis. "Aber heute ist das bares Geld. Denn ich kann die Holzchips an unser Wärmekraftwerk verkaufen."
Gut eine halbe Autostunde entfernt liegt das große Wärmekraftwerk. Im Sozialismus gegründet, versorgt es noch heute alle Haushalte der Region mit Heizungsenergie und Warmwasser. Damals wurde hier nur Erdöl aus Russland verbrannt, erzählt der Leiter Juris Kandzans. Vor fünf Jahren hat er den Bau des neuen Brennofens für Holzchips durchgesetzt. "Es geht um unsere Sicherheit. Die Weltmarktpreise für Rohöl können steigen, wie das im Irak-Krieg passiert ist." Es spiele keine so große Rolle, ob er das Öl aus Russland oder aus anderen Staaten beziehe, meint Juris Kandzans. Es sei immer gefährlich, nur von einem Rohstoff abhängig zu sein. "Jetzt können wir Holzchips aus Lettland verbrennen. Sie sind billig, deshalb haben wir sogar unsere Preise gesenkt."
1991 hat Lettland Moskau den Rücken gekehrt. Seitdem will das baltische Land auch unabhängig vom russischen Erdöl sein. Lettland ist nicht nur vom großen Daugava-Fluss, sondern auch von vielen kleinen Wasseradern durchzogen. Schon im Sozialismus hat Lettland mit der Stromgewinnung an der Daugava begonnen. Dank seiner beiden Kraftwerke verfügt das Land heute über mehr erneuerbare Energien, als Brüssel ab 2010 von allen EU-Mitgliedern verlangt. Trotzdem muss Lettland mehr als 40 Prozent seiner Energie importieren. Deshalb regte die lettische Regierung nach der Wende den Ausbau von kleinen Wasserkraftwerken an und bot für jede Kilowattstunde den doppelten Tarif.
Mittlerweile sind 149 Kraftwerke in Betrieb, die zwei Prozent des lettischen Strombedarfs decken. Nicht genug, meint der Umweltexperte Valdis Bisters. Die kleine Wasserkraft sei völlig überschätzt worden, weil man scharfe Umweltauflagen nicht bedacht hatte. Valdis Bisters entwirft im lettischen Umweltministerium Strategien für eine rentable Energiepolitik. Lettland könne die Produktivität der kleinen Wasserkraftwerke noch um 20 Prozent erhöhen, aber die Experten würden das große Potenzial eher in der Bioenergie sehen, meint er. "Uns fehlen 400 Megawatt. Allein 100 Megawatt könnte die Biomasse liefern, das Holz." Aber dieses Thema komme bei der lettischen Regierung längst nicht mehr auf den Tisch. "Alle sprechen jetzt nur von Atomkraft. Wird der neue Meiler in Litauen Realität, bleibt kein Geld mehr, die Sparte der Erneuerbaren weiter auszubauen." Die Rede ist von einem gemeinsamen Atomreaktor für das Baltikum. Estland, Lettland und Litauen wollen ihn so bald wie möglich errichten, Polen wurde soeben als Partner gewonnen.
Obwohl weder die Endlagerung des Atommülls noch der Schutz vor Terroranschlägen geklärt sind, ist kaum mit Protest der Bevölkerung zu rechnen. Die Leute vertrauen der modernen Technik und sind froh über jede Energiequelle, die sie unabhängig von Russland macht. Auch das lettische Wirtschaftsministerium setzt auf die nukleare Energie. Staatssekretär Ugis Sarma will Überkapazitäten produzieren und an die skandinavischen Nachbarn verkaufen. Lettland wolle am Stromgeschäft im nordischen Markt teilhaben, erklärt er. "Vielleicht kann unser Reaktor aber auch zu einer Renaissance der Atomkraft in Europa führen." Es gebe ja EU-Länder wie Schweden und Deutschland, die wollten Atomkraftwerke schließen. Daneben seien aber auch die Finnen, die jetzt einen neuen Meiler bauten. "Und wir könnten als Zweite wegweisend sein." Eine erste Verbindung zum skandinavischen Energiemarkt wurde immerhin Ende vergangenen Jahres in Betrieb genommen. Über ein Kabel, das vom lettischen Nachbarn Estland durch die Ostsee nach Finnland führt, ist das baltische Stromnetz zum ersten Mal direkt mit dem nordischen Stromnetz verbunden. Die Verfechter der erneuerbaren Energie lassen sich davon aber nicht entmutigen. Im Gegenteil: Mittlerweile sind viele Gemeinden dem Beispiel der Kleinstadt Tukums gefolgt und haben ihre Heizkraftwerke auf eine Befeuerung mit Holzchips umgerüstet.
Aber wer große Mengen Holz verbrennen will, der muss auch wissen, was mit den Rückständen geschieht. Deshalb wird am lettischen Forstinstitut untersucht, wie Pflanzen und Grundwasser reagieren, wenn Asche auf dem Waldboden ausgebracht wird. Ihre Ergebnisse bestätigen, dass die Biomasse eine große Zukunft in Lettland hat. Das ist trotzdem kein Grund zur Freude für den Leiter des Heizkraftwerkes in Tukums. Juris Kandzans hat in den ersten Wintern bereits Engpässe erlebt. "Die billigen Holzchips werden vor allem nach Schweden und bis Süditalien exportiert. Dort sind die Preise doppelt so hoch wie in Lettland. Deshalb arbeite ich jetzt mit meinen Lieferanten nur noch auf Vertrag." Ein Glück für den Sägewerkbetreiber Maris Kiezis. Er hat es mittlerweile zum Hauptlieferanten des Heizkraftwerkes von Tukums gebracht und muss nicht mehr mit den großen Holzfabriken in Lettland konkurrieren. "Mit der Holzbearbeitung konnte ich längst nichts mehr verdienen, deshalb habe ich die Herstellung von Holzchips verfünfzigfacht", sagt Maris Kiezis. Dafür habe er auch europäische Strukturhilfe beantragt. "Ich nahm einen Kredit bei der Bank auf und Brüssel gab mir einen Teil meiner Investitionen zurück." Jede weitere Entwicklung werde aber ausgebremst. Maris Kiezis würde gerne dem Beispiel seiner Schweizer Kollegen nacheifern und in den Wäldern rund um sein Sägewerk Plantagen für schnell wachsende Hölzer anlegen. Dafür benötige er eine Lizenz und die Unterstützung vom lettischen Staat. "Leider finde ich bei der Regierung für meine Ideen zur Weiterentwicklung der erneuerbaren Energie kein Gehör.