Dirk Müller
Der Berliner Hospizberater glaubt, dass die meisten Menschen sagen können, wie sie sterben wollen - wenn sie beraten werden.
Weshalb hat sich das Instrument der Patientenverfügung bewährt?
Die Sterbebegleitung ist nicht in jedermanns Kopf durchdacht, sondern wird oft verdrängt. Eine Patientenverfügung bedeutet, dass man sehr lange darüber nachdenken muss, was mit einem eigentlich in diesem Moment geschehen soll. Die Menschen wollen das am liebsten in einer Stunde erledigen mit ein paar Kreuzchen auf einem Blatt Papier. Oder mit ein paar vorformulierten Sätzen. Das wird nicht gehen.
Warum nicht?
Weil wir die Menschen erst mal dazu bringen müssen, sich über ihre eigenen Werte klar zu werden. Unsere Klienten bekommen von uns Fragen mit, die sie erst mal überdenken sollen. Sie müssen in sich hinein horchen, was ihnen im Leben wichtig ist. Weil wir ganz bewusst sagen, dass die Menschen in Patientenverfügungen nicht nur hineinschreiben sollen, was sie nicht wollen - sondern auch Wünsche formulieren sollen. Die Person, die später entscheiden muss, sei es der Arzt oder Richter, muss den Patienten aus allen Richtungen betrachten können.
Was wird da formuliert?
Menschen, die sehr am Leben hängen, können verfügen, dass alles medizinisch Mögliche getan wird. Man kann Personen benennen, die einem im Sterben begleiten sollen. Man sollte hineinschreiben, ob man gläubig ist. Oder ob man sehr daran gewöhnt ist, alles alleine zu regeln. Es gibt Menschen, die es nicht ertragen können, dass andere für sie komplett sorgen. Man sollte Einzelfälle beschreiben: Was passiert, wenn man sich nicht einmal mehr rühren kann.
Ist es möglich, eine solche Extremsituation, die erst zwanzig Jahre später eintreten kann, richtig vorauszuahnen?
Wir alle stecken nicht in dieser Situation und können uns da nur ein Stück weit hineinversetzen. Aber wenn wir während des Lebens Sterben und Tod nicht verdrängen und das auch bei Angehörigen bewusst miterleben, kann man sich das schon vor- stellen.
Ärzte sagen, dass Menschen oft in einer schweren Krankheit noch einen extremen Überlebenswillen entwickeln und plötzlich in letzter Minute ihrer Patientenverfügung widersprechen.
Das Problem ist sicher, dass viele Menschen noch nie einen Demenzkranken erlebt und beobachtet haben. Die hören das Wort Demenz und denken, dass man da nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Sie sehen mitunter gar nicht, dass ein Demenzkranker in der richtigen Versorgungsform viel Lebensfreude und Zufriedenheit haben kann. Auch ein Schwerstkranker kann noch in liebevoller Umgebung viel Lebensqualität haben.
Es wird Menschen geben, die sagen, wenn sie nicht mehr lesen können, ist die Lebensqualität vorbei. Sind sie später in der Situation, empfinden sie es vielleicht ganz anders.
Da würde ich zum Beispiel sofort nachfragen, was noch Freude im Leben macht. Wir haben viele Sinne. Derjenige sollte besser aufschreiben, was das kompensieren könnte. Aber es gibt durchaus Menschen, die einfach klar sagen wollen, wo sie ihre Grenze sehen, weil sie viele schmerzliche Erfahrungen im Leben gemacht und selbst schon eine lange Krankheits- und Leidensgeschichte mit überstandenen Schmerzen mitbringen. Die meisten Menschen haben Angst, in einer solchen Situation in ihrer Persönlichkeit nicht respektiert zu werden. Ist der Respekt da, ertragen sie viel mehr.
Ist damit eine Patientenverfügung mit ein paar allgemeinen Sätzen -wie etwa "keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr bei Demenz"- unbrauchbar?
An so etwas wird sich ein Arzt zu Recht nicht halten können. Nur zu sagen, dass man keine Schläuche und keine Schmerzen will, ist zu allgemein.
Wenn die Person eine individuelle auf den Einzelfall bezogene Patientenverfügung erstellt hat, die sich womöglich mit einer schon vorhandenen Krankheit bezieht, wird sie anwendbarer.
Sie würden in einem solchen Fall die individuelle Entscheidung des Arztes verstehen, der auf seine Freiheit pocht?
Wir haben klare Regelungen. Der einwilligungsfähige Patient entscheidet selbst. Wenn er über die Therapie aufgeklärt ist, kann er auch Maßnahmen ablehnen.
Ist der Patient nicht mehr ansprechbar, gilt der so genannte auf den Einzelfall bezogenen Patientenwille, der am besten schriftlich in einer Patientenverfügung niedergelegt ist, in Kombination mit der Vorsorgevollmacht mit der Person, die diesen Willen umsetzen soll.
Was bedeutet "individuell auf den Einzelfall bezogen"?
Sie muss zu der persönlichen ethischen Grundhaltung und zur eigenen Lebensphilosophie passen. Der Einzelfall heißt, dass auf eine konkrete Erkrankung eingegangen wird. Als junger Mensch weiß man natürlich nicht, ob man später eine Krebserkrankung bekommt. Wenn das später auftritt, muss die nachträglich in die Patientenverfügung aufgenommen werden - und zwar nach einem Arztgespräch über Risiken, Verlauf und Therapiemöglichkeiten. Diese Zeit muss man sich nehmen.
Auch dabei wird es schwierig sein, jede Eventualität vorhersehen zu können.
Für alle denkbaren Einzelfälle wird das nicht möglich sein. Der Arzt muss die Patientenverfügung auch mit dem medizinisch Möglichen und ethisch Vertretbaren in Einklang bringen. Unser Leben verändert sich ebenso wie unsere Lebenseinstellung. Eine Patientenverfügung kann überarbeitet und auch neu geschrieben werden. Wenn der Arzt sieht, wieviel Beratung und Rücksprache mit der Familie darin steckt, muss er das wertschätzen.
Wenn die Patientenverfügung enthält, die Geräte bei irreparabler Hirnschädigung abzuschalten - ist der Arzt daran gebunden?
Wenn die Situation konkret so beschrieben ist, würde der vorher gefasste Wille gelten.
Einige Ärzte haben Angst, sich damit strafbar zu machen.
Das ist manchmal auch ein Scheinargument. Wenn sich ein Mensch für Behandlungsabbruch entscheidet, trägt er dafür die Verantwortung.
Die Ärztekammer sagt, es gebe eine ausreichende Regelung zur Patientenverfügung. Was könnte ein Gesetz bringen?
Ich kenne Ärzte aus der Hospiz- und Palliativarbeit, die damit sehr sensibel umgehen. Würden das alle tun, bräuchte man solche Patientenverfügungen viel weniger. Aber viele Ärzte sind nicht in der Lage, den Patientenwillen angemessen zu ermitteln. Ein Beispiel ist die Magensonde, gegen die sich viele Menschen entscheiden. Nicht im Rahmen einer Therapie, nach einer Operation, sondern wenn es das Leiden nur herauszögert. Ich erlebe häufig, dass diese Sonde bei Sterbenden gelegt wird, obwohl es nicht gewünscht ist. Eine gesetzliche Regelung hätte auch symbolischen Wert. Das ist nicht zu unterschätzen. Ein Gesetz würde deutlich machen, dass Menschen sich um eine Patientenverfügung kümmern sollten, andererseits würde es die Ärzteschaft stärker anregen, den Patientenwillen umzusetzen.
Was halten Sie von einer Reichweitenbeschränkung, wie sie ein Gruppenantrag im Parlament fordert?
Wenn man mehr miteinander reden würde, auch die Ärzte mit den Patienten - wie es in der Hospizarbeit geschieht, wäre das alles nicht so ein Problem. Doch die Ärzte vermeiden oft das Thema, weil sie selbst Angst davor haben. Viele denken eher an den Staatsanwalt, bevor sie an den Patientenwillen denken. Ich glaube, ein Mensch kann entscheiden, was er will, wenn er gut beraten wird. Dann braucht man keine Reichweitenbeschränkung. Ich denke, die Patientenautonomie am Lebensende ist sehr wichtig. Die Hospizbewegung will weder Lebensverlängerung um jeden Preis noch aktive Sterbehilfe. Daran sollte sich die Politik orientieren und eine mittlere Linie zwischen den beiden Anträgen finden.
Das Gespräch führte Corinna Emundts.