Patientenverfügung
Wie weit geht Selbstbestimmung? Der Bundestag sucht nach Antworten.
Einsam, mit Schmerzen und der Apparatemedizin ausgeliefert zu sterben - für die meisten Menschen ein persönliches Horrorszenario. Viele verfassen gegen die Angst vor einem würdelosen Tod eine Patientenverfügung. Auf bis zu neun Millionen wird die Zahl derer geschätzt, die schriftlich festgelegt haben, was im Notfall, wenn sie sich nicht mehr äußern können, mit ihnen getan werden soll oder nicht. Reicht die Rechtsverbindlichkeit der Patientenverfügungen aus? Was kann gegen die weit verbreitete Unsicherheit über Erlaubtes und Unerlaubtes getan werden? Und wie verhält es sich mit den im Grundgesetz verankerten Werten der Selbstbestimmung und des Lebensschutzes? Befreit vom sonst üblichen Fraktionszwang wogen mehr als 30 Abgeordnete am 28. März in einer rund dreieinhalbstündigen, nachdenklichen und persönlichen Debatte im Bundestag die Argumente ab.
Unter den Parlamentariern, die eine gesetzliche Klarstellung anstreben, kristallisierten sich zwei Strömungen heraus. Eine fraktionsübergreifende Gruppe um Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach, den SPD-Politiker René Röspel, den FDP-Abgeordneten Otto Fricke und den Grünen-Parlamentarier Josef Winkler will Patientenverfügungen nur anerkennen, wenn der Krankheitsverlauf auf jeden Fall zum Tod führen wird.
Gegen eine solche Reichweitenbegrenzung spricht sich die Gegenseite rund um den rechtspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Joachim Stünker, aus. Stünker will mit seinem Vorschlag, der zurückgeht auf einen Gesetzentwurf von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) aus dem Jahre 2005, dem uneingeschränkten Selbstbestimmungsrecht des Patienten Geltung verschaffen. Die Verfügung soll gelten, vorausgesetzt, der Patient hat sich umfassend ärztlich beraten lassen und seine Verfügung alle zwei Jahre aktualisiert. Hinter Stünker scharen sich viele SPD- und Grünen-Abgeordnete; auch die FDP neigt diesem Modell zu. Gesetzentwürfe wollen beide Gruppen nach der Osterpause in den Bundestag einbringen.
"Im Zweifel für das Leben", sagte Bosbach. Niemand, so sein zentrales Argument, könne im gesunden Zustand wissen, welche Behandlung er im tatsächlichen Notfall wolle. Zur Untermauerung erzählt er eine Geschichte. Eine ältere Dame aus seinem Wahlkreis sei tagelang künstlich beatmet worden, obwohl sie sich in einer Patientenverfügung dagegen ausgesprochen hatte. Hinterher sei sie froh gewesen, dass der behandelnde Arzt diese in ihrer Handtasche nicht gefunden habe - denn so habe sie weitergelebt und "ihre Enkel aufwachsen sehen".
Die Gegenseite kontert mit eigenen Erfahrungen. Der SPD-Rechtspolitiker Olaf Scholz berichtet von seiner Patientenverfügung. Sorgfältig überlegt habe er sich das. Er könne sich deshalb nicht damit abfinden, dass gerade in dem Fall, wenn ein Mensch hilf- und bewusstlos ist, sein Wille nicht ernst genommen werden solle. Von einem "fürsorglichen Paternalismus mit Zwangsbehandlung" spricht gar der FDP-Abgeordnete Michael Kauch.
Brauchen wir ein neues Gesetz? Zahlreiche Abgeordnete beantworteten die Frage in der Debatte mit einem "Nein" oder einem "eher Nein". So die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD), die davor warnte, den Anschein zu erwecken, mit einer rechtlichen Regelung bestehende Unsicherheiten lösen zu können. Es müsse ohnehin in jedem Fall überprüft werden, ob die in einer Verfügung niedergelegten Behandlungsbestimmungen dem aktuellen Wunsch des Patienten entsprächen. Die Entscheidung über die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen liege daher "immer in der Hand von Dritten". Im Übrigen gebe es bereits heute rechtsverbindliche Patientenverfügungen. Unions-Fraktionsvize Wolfgang Zöller will daher nur geregelt wissen, in welchen Streitfällen das Vormundschaftsgericht eingeschaltet werden soll. Däubler-Gmelin fügt hinzu, sie habe die Sorge, dass mit dem Stünker-Vorschlag "in Zweifelsfällen nicht für das Leben entschieden" werde und der Eindruck entstehe, Alte, Kranke und Sterbende müssten nicht optimal betreut werden.
Zweifel an einer Regelungsnotwendigkeit äußerten auch der Grünen-Politiker Reinhard Loske und der Linksparlamentarier Ilja Seifert. Beide hoben hervor, dass sich das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht verrechtlichen lasse. Und der CDU-Gesundheitspolitiker Hans Georg Faust sagte, in seiner mehr als 30-jährigen intensivmedizinischen Erfahrung als Arzt habe es in den seltensten Fällen Probleme gegeben, die mit den heute vorgestellten Entwürfen besser hätten geregelt werden können. "Das Wohl des Patienten und sein Wille sind in der Regel keine Gegensätze", so Faust.