Status-Frage
Die politische Zukunft der Unruheprovinz ist in der Schwebe, mit der Wirtschaft geht es weiter bergab. Das interessiert nicht nur Serben und Albaner. Auch die Nachbarn sind besorgt.
Einen festen Zeitplan zur Lösung der Kosovo-Frage gibt es nicht, und selbst die ungefähren Angaben wechseln von Woche zu Woche. Als Martti Ahtisaari, der UN-Sondergesandte für das Kosovo, im Februar 2006 in Wien die Gespräche über den künftigen Status der völkerrechtlich Serbien zugehörigen Provinz einberief, wollte er den Prozess bis zum Ende desselben Jahres abgeschlossen sehen. Doch diese Frist ist längst verstrichen - und wann über den Status des Kosovos entschieden wird, ist noch immer offen. Immerhin legte Ahtisaari Ende Januar einen konkreten Plan für die Lösung der Statusfrage vor, der im UN-Sicherheitsrat anhängig ist. Zuletzt wurde der amerikanische Botschafter in Belgrad mit der Aussage zitiert, Washington strebe eine Resolution des UN-Sicherheitsrates an, die das Kosovo "noch vor dem Ende des Sommers" zu einer von der Staatengemeinschaft überwachten Unabhängigkeit führt. Serbien antwortete darrauf vergangene Woche mit dem Vorschlag einer "überwachten Autonomie". Indes machte sich Ende April eine 15-köpfige Gesandschaft des UN-Sicherheitsrates ein Bild von der Lage in der Region.
Die Vereinigten Staaten drängen vor allem deshalb zur Eile, weil eine weitere Verzögerung des Status-Prozesses die Gefahr eines neuen Gewaltausbruchs im Kosovo heraufbeschwört. Denn die Kosovo-Albaner, die mehr als 90 Prozent der Bevölkerung in der Provinz stellen, warten nicht erst seit dem Beginn der Wiener Status-Gespräche auf eine Entscheidung über die völkerrechtliche Zukunft ihres Gebietes. Aus ihrer Perspektive währt die Ungewissheit schon seit dem Juni 1999, als das Kosovo nach dem Abzug der serbischen Truppen und dem Ende der Nato-Luftangriffe auf Jugoslawien unter die interimistische Verwaltung einer Mission der Vereinten Nationen gestellt wurde. Die wirtschaftliche Lage in der Provinz hat sich seither nicht wesentlich verbessert. Zwar kam es in den ersten Jahren nach 1999 zumindest in den Städten zu einer wirtschaftlichen Scheinblüte, die nicht zuletzt durch das Geld des Heers der ausländischen Berater und Diplomaten in Diensten der UN-Mission hervorgerufen wurde. Doch von einem echten Aufschwung ist das Land weit entfernt.
Die Lage ist im Gegenteil sogar schwieriger geworden, weil ein traditioneller Exportzweig der kosovarischen Wirtschaft, die Ausfuhr von Arbeitskraft, fast zum Erliegen gekommen ist. Seit Menschengedenken war die Abwanderung von jungen Männern das wichtigste Ventil zum Abbau des Bevölkerungsüberdrucks in der Provinz. In der türkischen Zeit gingen junge Kosovaren nach Thessaloniki oder Istanbul, in Jugoslawien suchten sie in Belgrad, Zagreb oder Laibach nach Anstellungen, noch später dann als Gastarbeiter vor allem in Deutschland und der Schweiz. Doch dieses Sicherheitsventil ist nun weitgehend geschlossen.
Da die Geburtenrate im Kosovo aber die höchste in Europa ist, staut sich dort mittlerweile ein gefährlicher Überdruck an. Jedes Jahr drängen tausende junge Kosovaren auf einen Arbeitsmarkt, der sie nicht aufnehmen kann. Investitionen gibt es wenig. Das hat nicht nur, aber auch mit dem ungeklärten Status des Kosovos zu tun - denn welcher Investor wagt sich in ein Gebiet, von dem nicht einmal klar ist, zu welchem Staat es gehört?
Es ist nicht überraschend, dass nicht nur Serbien, sondern auch viele andere Staaten in der Region die Entwicklung im Kosovo, bei der das klischeehafte Wort vom "Pulverfass" ausnahmsweise einmal gerechtfertigt ist, für die wichtigste politische Frage Südosteuropas halten. Besonders trifft das auf den Nachbarstaat Mazedonien zu, dessen Bevölkerung zu einem Viertel aus Albanern besteht. Die Regierung in Skopje zeigte sich mit dem Lösungsplan Ahtisaaris äußerst zufrieden. Ein Grund dafür war, dass der Plan eine endgültige Regelung des von kosovarischer Seite aus mitunter angezweifelten Grenzverlaufs zu Mazedonien festlegt. Der mazedonische Regierungschef Gruevski und Mazedoniens Staatspräsident Crvenkovski stehen nun allerdings vor der schwierigen Frage, wie es das Land mit der Anerkennung eines Staates Kosovo halten soll.
Serbien hat mit diplomatischen und politischen Sanktionen gegen Staaten gedroht, die das von Belgrad beanspruchte Kosovo als Staat anerkennen sollten. Zwar dürfte diese "serbische Hallstein-Doktrin" nur ein rhetorischer Kniff sein, da eine Verwirklichung dieser Drohung zur Selbstisolation Serbiens führen würde. Doch gerade kleine Staaten wie Mazedonien, das wie das Kosovo nur etwa zwei Millionen Einwohner hat, können sich schlechte Beziehungen zu Serbien, dem wichtigsten Staat der Region, nicht leisten. Andere Bedenken hat man in Budapest, denn Ungarn ist, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, indirekt durchaus mit der Kosovo-Frage verbunden. Ungarn hat stets Wert auf gute Beziehungen zu Serbien gelegt, da es in der serbischen Nordprovinz Vojvodina eine bedeutende ungarische Minderheit gibt.
Laut Volkszählung von 1991 lebten zum Zeitpunkt des Zerfalls von Jugoslawien etwa 344.000 Ungarn in Serbien, fast alle in der Vojvodina, wo sie knapp 17 Prozent der Provinzbevölkerung stellten. Diese Zahl hat sich in den Jahren der Milosevic-Herrschaft deutlich reduziert.
Viele ungarische Familien gingen in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Ungarn oder ins westliche Ausland. Junge ungarische Männer verließen die Provinz, weil sie nicht in Milosevics Armeen zum Kriegführen eingezogen werden wollten. Nach dem Ende der Kriege in Kroatien und Bosnien-Hercegovina 1995 kamen hingegen mehrere zehntausend Serben aus den beiden Nachbarstaaten in die Vojvodina. Die Neuankömmlinge waren oft Flüchtlinge vom Lande, deren Anwesenheit auch die politische Atmosphäre in der Vojvodina deutlich veränderte. "Die bosnischen Serben haben sich nicht an unsere Stadt angepasst. Sie haben einfach ihr Landleben weitergeführt und das Dorf mit in die Stadt gebracht", klagte ein alteingesessener serbischer Bürger der Stadt Novi Sad einmal über die "Neuserben" der Vojvodina.
Doch noch immer lebt eine maßgebliche ungarische Bevölkerungsgruppe in der Provinz. Die Angaben schwanken zwischen 200.000 und 250.000 Personen. Die parteiübergreifende Befürchtung in Budapest lautet nun: Sollte die Kosovo-Lösung scheitern und es zu einem neuerlichen Gewaltausbruch in der Südprovinz kommen, könnten sich abermals tausende Serben veranlasst sehen, von dort wegzuziehen und die wirtschaftlich für serbische Verhältnisse gut entwickelte Vojvodina zur neuen Heimat wählen. Die Stellung der ungarischen Minderheit würde dann weiter gefährdet, fürchtet man in Budapest.