ÜBERSETZUNGSSTREIT
Die EU macht sich für Mehrsprachigkeit stark - aber nicht in eigener Sache
Auf der Tagesordnung des Unterausschusses zu Fragen der Europäischen Union findet sich seit einiger Zeit ein ungewöhnlicher Punkt: "Zurückweisung nicht übersetzter Vorlagen", heißt es hier zu Beginn jeder Sitzung. Erst am 2. März legte der Ausschussvorsitzende Klaus-Peter Willsch (CDU) wieder einmal einen Bericht der Europäischen Kommission über das PHARE-Programm - über Gemeinschaftshilfen für Länder Mittel- und Osteuropas - auf einen großen Stapel. Der wird immer höher. Zwischenzeitlich ist die Zahl zurückgewiesener Vorlagen aus Brüssel auf 29 angestiegen. Denn bereits seit einiger Zeit weigern sich nicht nur Abgeordnete dieses Unterausschusses, sondern auch des Haushalts- und des Finanzausschusses EU-Vorlagen zu beraten, bei denen die Übersetzung fehlt. "Wir wollen damit deutlich machen, dass wir keine Faulenzer sind und nicht beraten wollen, sondern dass wir nicht beraten können", erklärt Willsch das Vorgehen der Abgeordneten des Bundestages.
Der Diplomvolkswirt weiß, der Teufel steckt, auch gerade sprachlich, im Detail und sieht durch die Sprachenpolitik der Kommission seine Arbeit als Abgeordneter in Gefahr: "Wir sind nicht bereit hinzunehmen, dass uns durch die Verweigerung der Übersetzung eine sachgerechte Beratung der Vorlagen unmöglich gemacht wird", sagt er. Offiziell sind laut der Verordnung Nr. 1 aus dem Jahr 1958 alle Sprachen gleichberechtigt. Um das Brüsseler Sprachengewirr zu vereinfachen, entwickelte sich aber schon früh die Praxis, wichtige Papiere und Texte in die drei so genannten Verfahrenssprachen oder Arbeitssprachen - englisch, deutsch und französisch - zu übersetzen. Die Erweiterungsrunden im Jahr 2004 und 2007 ließ die Zahl der Sprachen jedoch rapide ansteigen: aus einst elf Sprachen sind bis heute 23 geworden. Seitdem finden deutsche Abgeordnete immer seltener Texte in ihrer Muttersprache. Für viele umso unverständlicher, da seit den letzten beiden Erweiterungsrunden Deutsch mit 20 Prozent die meist gesprochene Sprache in der Union ist. Dennoch werden immer weniger Texte ins Deutsche übersetzt - offenbar um die rapide gestiegenen Übersetzungskosten zu senken. Um möglicher Kritik schon im Vorfeld den Wind aus den Segeln zu nehmen, bedient sich die Kommission dabei eines Tricks: sie stuft wichtige EU-Dokumente kurzerhand als "Anhänge" oder "Arbeitsdokumente" ein, die damit nicht mehr bindend übersetzt werden müssen. Die Kriterien, was letztendlich übersetzt wird und was nicht, sind dabei nicht transparent. Seitdem die nationalen Parlamente in Brüssel eine größere Rolle spielen und auch der Bundestag seine Mitwirkungs- und Kontrollrechte in Europaangelegenheiten noch stärker wahrnimmt, ist der Bedarf an guten Übersetzungen jedoch größer denn je: Viele Dossiers enthalten Fachbegriffe, die nur in der eigenen Sprache genau wiedergegeben werden können. Nach Bundestagspräsident Norbert Lammert mahnten in diesem Jahr auch Bundeskanzlerin Angela Merkel als amtierende Ratspräsidentin und Bundesaußenminister Steinmeier mehr deutsche Übersetzungen und damit eine größere sprachliche Vielfalt an. Doch auch wenn auf beharrliches Drängen immer wieder einzelne Dokumente übersetzt werden, bleibt unklar, welche Logik die Kommission in dieser Frage verfolgt. Nur soviel ist klar: die derzeitige Übersetzungspolitik will so gar nicht zur Leitidee einer "Einheit in Vielfalt" passen.
Brüssel hat zwar seit Januar 2007 mit dem rumänischen Kommissar Leonard Orban einen Kommissar für Mehrsprachigkeit ernannt. Seine Amtsbezeichnung ist aber offenbar noch kein Programm. Im Europaausschuss des Deutschen Bundestages sah sich Orban am 25. April daher auch ungewohnter fraktioneller Einmütigkeit gegenüber. Unverblümt brachten die Abgeordneten ihren Ärger über die Brüsseler Praxis zum Ausdruck. "Mir macht es Angst, wenn irgendwo entschieden wird, was übersetzt wird und was nicht", sagte Hans Peter Thul (CDU). Und sein FDP-Kollege Markus Löning machte deutlich, dass für eine stärkere Beschäftigung mit Europa Übersetzungen unabdingbar seien: "Für eine echte Auseinandersetzung müssen die Papiere auch in den Nationalsprachen vorhanden sein." Die Kosten dürften bei dieser Frage nicht im Vordergrund stehen, erklärte Michael Roth (SPD). Für den EU-Kommissar ist gerade dies aber offenbar der springende Punkt. "Wenn wir die jetzigen Mittel beibehalten, wird es keine wesentlichen Verbesserungen geben", erklärte Orban im Bundestag. Er verweist da-
rauf, dass die Mittel für den Übersetzungsdienst 2002 trotz einer Vielzahl zu erwartender neuer Sprachen nicht aufgestockt worden seien. Daher habe die Kommission den Übersetzungs- und Dolmetscherdienst entsprechend reduzieren müssen. Für die Zukunft setzt Orban daher auch auf neue Technologien. Solange will Bundestagspräsident Norbert Lammert jedoch nicht warten: "Der Deutsche Bundestag wird weiterhin Verträge, Rechtsetzungsakte und andere relevante europäische Dokumente nur behandeln, wenn die für ihre Bewertung notwendigen Texte in deutscher Sprache vorliegen", sagte er vergangene Woche. Das haben auch die Ausschussvorsitzenden bekräftigt. Ihre Stapel mit EU-Vorlagen dürften erst einmal weiter wachsen.