Russland
Die letzte Abrechnung der ermordeten Anna Politkovskaja mit Wladimir Putin
Seit dem Amtsantritt von Präsident Wladimir Putin im Jahr 2000 wurden in Russland, so die Angaben von "Reporter ohne Grenzen", 21 Journalisten ermordet. Eine von ihnen ist Anna Politkovskaja. Sie schrieb für Russlands wohl einzig verbliebene liberale Tageszeitung, die "Nowaja Gaseta". Am 7. Oktober 2006 wurde sie in ihrer Wohnung erschossen. Bis heute sind die Mörder nicht gefasst. Jetzt, posthum, wurde ihr letztes Buch veröffentlicht.
In ihrem "Russischen Tagebuch" kommentiert Anna Politkovskaja die politischen Ereignisse der Jahre 2003 bis 2005. Sie gewährt Einblicke aus erster Hand, scharfe Beobachtungen, bildhafte und analytische Schilderungen. Sie berichtet von Putins "neo-sowjetischem" Russland und seiner "neuen KPdSU", von der Korruption in Politik und Wirtschaft, von "Hurrapatrioten" und dem Versagen der Opposition. Für ihre Recherchen begab sich die Autorin in die Machtzentren Moskaus und in den Ural, reiste bis in die abgelegensten Provinznester Tschetscheniens. Ihre Gesprächspartner waren Politiker und Kriegsveteranen, Arme und Reiche. Wie Interviews lesen sich ganze Passagen des Buchs. Andere sind Reiseberichte, Reportagen, Randnotizen.
Kein gutes Haar lässt die streitbare Journalistin, die mit Berichten über die Menschenrechtsverletzungen im Tschetschenien-Krieg bekannt wurde, an den herrschenden Kräften ihres Landes. Dass sie so schnell den Hass der Regierenden auf sich zog, verwundert nicht. Zur Wiederwahl Putins im Jahr 2003 notierte sie: "Abends, nach Abschluss der Stimmenauszählung, war nicht mehr zu übersehen, dass zum ersten Mal seit dem Zerfall der UdSSR unverbesserliche Nationalpatrioten, die in aller Öffentlichkeit verkündet hatten, ,sämtliche Feinde Russlands' aufhängen zu wollen, die Sympathien die Bevölkerungsmehrheit gewinnen konnten."
Anna Politkovskaja war eine Jägerin. Unermüdlich listete sie Belege für die Unterdrückung der oppositionellen Stimmen, für Wahlmanipulation und andere Verbrechen auf. Stets umgetrieben von der Frage, weshalb niemand etwas gegen die fragwürdigen Zustände unternimmt, gab sie sich selbst die Antwort: Die Mehrheit der Bevölkerung verschließe nur allzu gern die Augen vor der Realität. Die postkommunistische Gesellschaft leide an Paternalismus, an Ratlosigkeit und Identitätsschwäche: "Deshalb kann sich Putin alles erlauben. Deshalb ist ein Putin möglich."
Was die Lektüre an manchen Stellen erschwert, ist die Tatsache, dass die Autorin ganz selbstverständlich Namen und Ereignissen nennt, die dem Leser einige Vorkenntnisse abverlangen. Nicht jeder in Deutschland kann auf Anhieb etwas mit Schlagwörtern wie "der Fall JUKOS" oder "die Verhaftung Michail Chodorkowskis" anfangen. Gleichzeitig macht die Dichte, mit der dieses Buch geschrieben wurde, auch seine Stärke aus.
Nach der Lektüre des "Russischen Tagebuchs" bleibt die Frage, ob Russlands Situation wirklich so ausweglos ist. Auch wenn Politkovskaja diese Einsicht schmerzte, so glaubte sie tatsächlich nicht an eine bessere Zukunft für ihr Land. Russland sei nicht auf dem Weg zur Demokratie. Auch einer neuen oppositionellen Bewegung unter Garri Kasparow räumte sie keine Erfolgschancen ein. Weil sie seinen Mitstreitern nicht traute. Und weil jeder, der sich gegen die Mächtigen stellt, in Russland gefährlich lebt. "Wer nicht mitspielt, wird einfach ersetzt. Wer sich nicht ersetzen lassen will, muss gut auf sich aufpassen", schrieb die Autorin. Im Hinblick auf ihre Ermordung und die Verhaftung von Kasparow vor kurzer Zeit gewinnen diese Sätze besonderes Gewicht.
Im eigenen Land machte Anna Politkovskaja sich mit ihrer deutlichen Sprache auch unter Kollegen nicht beliebt, galt manchen gar als Nestbeschmutzerin. Völlig zu Recht ist die ermorderte Journalistin deshalb wegen ihrer mutigen Bücher für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Gespräch.
Russisches Tagebuch.
DuMont Literatur und Kunst Verlag,
Köln 2007;
458 S., 24,90 ¤