Golan-höhen
Kuneitra ist ein Symbol für den inzwischen 40-jährigen Streit zwischen Israel und Syrien. Reportage aus einer Geisterstadt.
Kuneitra. Wie ein in die Jahre gekommener Kiosk sieht das Häuschen in einer unscheinbaren Seitenstraße des Damaszener Diplomatenviertels Malki aus, wo es die begehrten Stempel gibt. Für ein paar Lira und eine Stunde Wartezeit bekommen Angehörige westlicher Länder mit einem gültigen Visum für Syrien im Pass und sehr viel gutem Willen des diensthabenden Beamten einen Passierschein, der zum Besuch des Sperrgebiets am Fuße der Golan-Höhen berechtigt. Peter traut seinen Augen nicht, als er das Papier in den Händen hält. Mit allem hat der Amerikaner gerechnet, nur nicht damit, dass er tatsächlich an die Frontlinie herangelassen wird, die vor 40 Jahren zwischen Syrien und Israel entstand. Noch immer herrscht offiziell Krieg zwischen beiden Ländern. Peters Heimatland steht stramm an der Seite Israels und weigert sich, mit den Syrern an einem Tisch zu sitzen, bezeichnet sie als Drahtzieher des Terrorismus im Mittleren Osten und ihr Land als Schurkenstaat. Doch obwohl der Kongress in Washington Mitte Mai weitere Sanktionen gegen Syrien verhängt hat, will Peter in Damaskus Geschäfte machen. Sein zweiter, libanesischer Pass kommt ihm dabei zu Hilfe. Seinen Nachnamen will er vorsichtshalber nicht gedruckt sehen.
Die Straße führt 70 Kilometer von Damaskus nach Südwesten, durch Siedlungen mit Olivenhainen und Schafherden. Am Horizont erhebt sich die gelblich-braune Kulisse des Hermon-Massivs, dessen höchste Erhebung 2.600 Meter aufweist. "In diesen Dörfern wohnen sie", erklärt Taxifahrer Mohammed, "alles Araber und Drusen, die von der anderen Seite hierher geflohen sind." Fast 200.000 sollen es damals gewesen sein. Abu Khalil ist einer von ihnen. Mit seiner Frau und den Kindern bewohnt er ein kleines Haus in Khan Arnaba, das von einem unbedeutenden Dorf zu einer Kleinstadt angewachsen ist und unmittelbar am Sperrbezirk liegt. Mit einem winzigen Tante-Emma-Laden hält sich die Familie über Wasser. "Unsere Ländereien, unsere Olivenbäume und das große Haus liegen drüben", erzählt Abu Khalil und bittet die Besucher, sich auf den Teppichen niederzulassen. Sein Bruder sei noch dort. Er habe ihn seit 40 Jahren nicht mehr gesehen. Verwandtenbesuche sind nach wie vor nicht erlaubt. Früher fuhr der 68-jährige Druse manchmal zum Sperrzaun nach Hadar, um seinem Bruder mit dem Megafon auf die israelische Seite eine Nachricht zuzuschreien. Doch im Zeitalter des Internets ist dies nicht mehr nötig. Sie schreiben sich jetzt E-Mails. Lediglich einmal im Jahr öffnet sich die einzige Tür im Zaun für ein paar Stunden. Tränenreich werden Frauen in weißen Hochzeitskleidern von Israel nach Syrien geschleust, die dorthin versprochen worden sind und heiraten sollen. "Es ist dann ein Abschied für immer", kommentiert Abu Khalil die tragischen Szenen, "zurück können sie nicht mehr."
Israel nennt ihn "Sechs-Tage-Krieg", die Araber "Nakse" (die Niederlage). In der knappen Woche vom 5. bis zum 10. Juni 1967 hat sich die geopolitische Landkarte im Nahen Osten völlig verändert: Israels Staatsgebiet ist um das Dreifache gewachsen, der Judenstaat zur dominierenden Militärmacht in der Region geworden. Seitdem sind Ost-Jerusalem, der Gazastreifen, Teile des Westjordanlands und die Golan-Höhen von Israel besetzt. Mit einem Überraschungsangriff hat das israelische Militär die Armeen Ägyptens, Jordaniens und Syriens geschlagen. Im so genannten Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 schlugen Syrien und Ägypten zurück. Syrische Truppen konnten Teile der Golan-Höhen zurückerobern. Aus den in einem Entflechtungsabkommen festgeschriebenen Rückgewinnen machte Syriens Propaganda einen "Sieg über den Zionismus". Doch der Großteil des Golans blieb in israelischer Hand.
Es ist einsam geworden um Hadschi Siad am Fuße des Golans. Als einziger wohnt der 75-Jährige noch in Kuneitra. Durch völlig verwüstete Straßen geht er freudig im dunkelblauen Trainingsanzug auf die Besucher zu. Aus seiner Heimatstadt, die früher einmal die "Blume des Golans" genannt wurde, ist nur ein einziges Trümmerfeld übrig geblieben. Als Symbol sinnloser Zerstörung will die syrische Regierung Kuneitra so lange unangetastet lassen, bis der Golan wieder vollständig an Syrien zurückgegeben wird. Dabei war es gar nicht der Sechs-Tage-Krieg, der die "Blume" hat sterben lassen. Ohne größeren Widerstand konnten israelische Soldaten die Stadt am 10. Juni 1967 im Handstreich erobern und zu ihrer Frontgarnison deklarieren. 50.000 orthodoxe Christen, Muslime, Drusen und Tscherkessen, die Einwohner Kuneitras, flohen ins Landesinnere. Einige wenige Familien blieben. Drei Jahre später, im Oktoberkrieg, wurde die fast entvölkerte Stadt zum Schlüsselproblem zwischen Israel und Syrien. Seitdem liegt Kuneitra in der von Uno-Friedenstruppen kontrollierten, entmilitarisierten Pufferzone, untersteht aber formell syrischer Zivilverwaltung. "Aus Wut über den durch die Weltgemeinschaft verordneten Abzug aus Kuneitra haben die Israelis verbrannte Erde hinterlassen", erinnert sich Hadschi Siad. Die Häuser wurden ausnahmslos zerschossen oder geschliffen, die Mauern der orthodoxen Kirche sind unter den Granateneinschlägen zerborsten, die einst weißen Minarette der Moscheen gekappt. Zwischen den Ruinen blüht jetzt wilder Jasmin, streunen verwilderte Hunde: Kuneitra ist zur Geisterstadt geworden. Hadschi Siads Kinder leben in Damaskus, aber er will nicht aus Kuneitra weg. "Sagen Sie Ihrem Präsidenten, er soll sich das hier mal anschauen", gibt der kleine Syrer dem Amerikaner mit auf den Weg. "Vielleicht hat er dann auch für uns etwas übrig und nicht immer nur für die Israelis." Peter nickt.
An der Ausfahrt aus dem Sperrgebiet schiebt Gefreiter Josef Deitling Wache. Er stammt aus Wien und hat ein blaues Barett auf dem Kopf. Die Friedenstruppe der Vereinten Nationen besteht aus Soldaten aus Österreich, Polen und dem Iran, die sich im sechsmonatigen Wechsel ablösen. Eigentlich sei dies eine der sichersten Grenzen der Region, resümiert der Österreicher. Seit dem Abzug der Israelis im Juni 1974 aus Kuneitra sei hier am Golan kein Schuss mehr gefallen. Die neuerlichen Behauptungen der Regierung in Jerusalem, die syrische Armee habe verstärkt Truppen am Sperrzaun stationiert, kann Deitling nicht bestätigen. Die sechs Monate seiner in Kürze zu Ende gehenden Dienstzeit seien gleichbleibend ruhig verlaufen, fast schon etwas langweilig. Trotzdem ist der Österreicher froh, hier in Syrien stationiert zu sein und nicht an anderen Brennpunkten der Welt, wo Blauhelme eingesetzt sind und "man nicht weiß, was der nächste Tag bringen wird und ob man heil wieder nach Hause kommt".
Syrien hat in den vergangenen Monaten den diplomatischen Druck erhöht, endlich zu einer Lösung der Golan-Frage zu gelangen. Die arabische Friedensinitiative bildet hierfür den Rahmen. "Wir wollen Land für Frieden", sagt Suleyman Haddad im Einklang mit der Deklaration des Gipfels der Arabischen Liga vom März in Saudi-Arabien. Demnach soll Israel alle besetzten Gebiete zurückgeben und wird im Gegenzug von den arabischen Staaten anerkannt.
Haddad glaubt, dass mit der Lösung dieser Frage auch das Problem des Extremismus in der Region erledigt sein werde. Der hochgewachsene Syrer im eleganten schwarzen Anzug war von 1987 an zehn Jahre lang Botschafter seines Landes in der Bundesrepublik und kennt die komplizierte Haltung, die die Geschichte den Deutschen gegenüber Israel auferlegt hat. "Doch wenn die Regierung in Jerusalem Fehler macht, dann wird man das doch offen sagen dürfen", meint der ehemalige Diplomat undiplomatisch. Syrien gebe derzeit fast 70 Prozent seines Haushalts für die Rüstung aus und dies, obwohl die Armee aus dem Libanon abgezogen sei. "Der Preis ist Israel", begründet Haddad, "und das wollen wir nicht." Syriens Staatspräsident Hafiz al-Assad habe bereits 1999 angefangen, mit den Israelis über die Rückgabe des Golans und einen Friedensvertrag zu verhandeln. Seit seinem Tod im Jahre 2000 herrsche Funkstille.
Auf die Beziehungen mit dem östlichen Nachbarn angesprochen, wies Israels Premierminister Ehud Olmert Ende vergangenen Jahres jegliche Kompromissbereitschaft weit von sich: "Solange ich Ministerpräsident bin, werden die Golan-Höhen in unseren Händen bleiben." Nachrichtenagenturen berichten, dass die israelische Armee seit vergangenem Dienstag Manöver auf dem Golan abhält.