SENIORENTOURISMUS
Reisemarkt der Zukunft? Ein Plädoyer für eine differenzierte Betrachtung.
"Sitzend bin ich sechzig Jahre alt, stehend sacke ich etwas zusammen, aber mein Gang ist behände. Auf ebenem Boden bin ich unverdächtig. Aber wenn ich eine Treppe hinuntergehe, werde ich siebzig. Ich steige mit meinem Kopf hinunter, denn meinen Beinen vertraue ich nicht mehr. Diese wenigen Zehntelsekunden des Zögerns vor jeder Etappe einer instinktiven Bewegung, die man einschätzen muss, zeigen an, dass man unwiederbringlich angelangt ist."
(Auszug aus Benoite Groult: Salz des Lebens, Berlin 2007)
Dass die Bevölkerung weltweit älter wird, ist ein Gemeinplatz. Die Einstellungen dazu schwanken hingegen. Einerseits Geronto-Phobie ("Methusalem-Komplott"), andererseits Geronto-Hype ("Silvering Trend"). Positiv werden vor allem die ökonomischen Potenziale gesehen:
Der Seniorenmarkt avanciert zu den Powermärkten der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Reise- und Automobilbranche werden den Nischenmarkt "Best Ager" zum Zukunftsmarkt schlechthin erklären. Mit einem Geldvermögen von mehr als 500 Milliarden Euro ist die 50plus Generation schon heute Deutschlands potenteste Käufergruppe.
In der Begriffswahl zeigt sich jedoch nach wie vor Unsicherheit im Umgangs mit den Tatsachen: 50plus sollen schon Senioren sein - lächerlich! Und "Best Ager" - das kann sich nur jemand ausdenken, der die 60 noch längst nicht überschritten hat! Deswegen werden die "Best Agers" in der Produkt- und Tourismus-Werbung auch grundsätzlich fit, aktiv und nur ein bisschen faltig dargestellt - realistische Bilder von Alten könnten ja den latenten Jugendkult, der nun nur bis jenseits der 60 ausgedehnt wird, in Frage stellen.
"Fängt man an, zu überlegen was man ins Spiel bringen muss, um zu gehen, ist das schon kein Gehen mehr, es ist von einem Punkt zum andern zu gelangen. Und … eines Tages wird einem selbst das wie ein Wunder vorkommen. Unterdessen muss man den nächsten Schritt überlegen und seine Anstrengungen koordinieren wie ein kleines Kind… Wenn das Gehen keine Selbstverständlichkeit mehr ist, wird die Harmonie der Welt in Frage gestellt."
(Benoite Groult: Salz des Lebens)
Jene überdimensional vergrößerten weiblichen Aktfotografien von Annie Leibowitz an einem Baugerüst Unter den Linden, die eindeutig drei weibliche "Best Ager" jenseits der 60 darstellten - werbend für die besonders sanfte Hautpflege eines Kosmetikherstellers -, sind in der Werbefotografie sicher ein Fortschritt. Aber sie hinterließen bei den älteren Passantinnen keineswegs nur ein neues Selbstbewusstsein. So wird ein Terror des "schönen Alterns" entfacht, der entsprechende Kliniken in immer mehr Tourismusdestinationen gut ernährt. Zwar fühlen sich Alte um durchschnittlich 14 Jahre jünger als sie sind und glauben, dass sie um 8 Jahre jünger aussehen, aber die biologische Uhr tickt trotzdem unbarmherzig.
Die Tourismuswirtschaft sollte nicht einfach auf diesen Hype aufspringen, sondern sehr genau differenzieren. Zwar deuten die Resultate der neuen Studie des Oxford Institute of Ageing zum Thema "Leben und Arbeiten im Ruhestand" darauf hin, dass weltweit der Trend zum aktiven Alter anhält und eher noch stärker wird - und drei Viertel der Befragten wollen mehr reisen! Aber diese Absichtserklärung findet sich seit Jahren in einschlägigen Befragungen von Rentnern - es sind klassische Lebensträume, die aus verschiedenen Gründen nicht immer verwirklicht werden - aus gesundheitlichen Gründen oder aus familiären Gründen (Enkel!). "Aktives Alter", das kann zudem auch bedeuten, dass man sich noch quasi-beruflich engagiert, studiert und lernt oder ein ganz neues Projekt beginnt - statt zu reisen.
Man kann davon ausgehen, dass sich die persönlichen Lebensstile, zu denen auch das Reisen gehört, etwa bis zum 50. Lebensjahr in einer Weise verfestigen, dass sie sich nicht mehr grundlegend ändern. Auf der Basis verschiedener Generationen der "Best Ager" kann man eine Prognose wagen:
- Von den heute 60- bis 70-Jährigen hat die Mehrzahl in ihrer Kindheit noch Krieg oder Nachwirkungen des Krieges miterlebt. Kindheit und Jugend fielen in die Wiederaufbau-Phase ohne Urlaubsreise. Mit dem Wirtschaftswunder konnte diese Generation jedoch die fantastischen Möglichkeiten der sich entwickelnden Tourismusindustrie in den 1970ern nutzen. Wahrscheinlich hat es niemals eine Altersgruppe mit soviel Reiseerfahrung gegeben, wie die heute 60- bis 70-Jährigen. Sie werden das Reisen nicht lassen, aber entweder sehr anspruchsvoll sein (innovative Situationen und Programme) oder sich auf bewährte Ziele verlassen (Zweitwohnsitze!).
- Die Senioren-Generation der heute ca 70- bis 80-Jährigen ist zwischen den Weltkriegen geboren und wuchs mit Entbehrungen und Arbeit auf. Bei Abschluss des Wiederaufbaus Ende der 1960er war sie mitten in der aktiven Berufs- und Familienphase. Eine Urlaubsreise war ein Luxus, den man sich gönnte. Das hat diese Senioren-Generation beibehalten und wird es auch in Zukunft tun. Diese Gruppe ist heute die größte. Weil sie in die kritischen Jahre des körperlichen Verfalls hineinwächst, aber weiter reisen will, sind hier intelligente Hilfestellungen für Transport und Urlaubsalltag wichtig.
- Die Generation der heute 80- bis 90-Jährigen war, als die Tourismusbranche sich entwickelte, bereits um die 50. Sie hatte Nachholbedarf, war jedoch nicht sehr sprach- und weltgewandt (viele Kriegswitwen), was deutschsprachigen Zielen im Ausland, Pauschalreisen und Kreuzfahrten Aufwind gab und gibt. Diese "Hochbetagten" wollen immer noch gerne reisen, können es aber immer weniger und brauchen deshalb Betreuung rund um die Uhr.
Der Senioren-Reisemarkt ist nicht automatisch eine Goldgrube. Nur die Produkte, die eine klare Empathie den Alten (!) gegenüber zeigen, also die richtigen kleinen Hilfestellungen für die Schwächen des Alters in Organisation, Transport und Leben am Reiseziel bereitstellen, werden Erfolg haben. Diese Professionalität werden die heute 50- bis 60jährigen als Alte selbstverständlich erwarten - sonst verreisen sie eben nicht und geben das Geld lieber ihren Enkeln.